»Weiß ich. Hallo«, sagte Vincent in einem Ton, als ob ihn das alles nichts anginge.
»Hier ist es so ungemütlich.« Timo Spiekerkötter warf einen skeptischen Blick zum Himmel. »Gehen wir doch einfach in eine Bar in der Nähe und plaudern … unterhalten uns über diese bedauernswerte Charlotte.«
Seine zierliche Freundin zog ihn am Ärmel wie ein Kind. »Timmie-Schatz, ich bin dann mal weg, ja? Ich nehme ein Taxi. Ich hab solche Kopfschmerzen.« Mit einer Hand versuchte sie, ihre vom Wind verwehte Frisur zu retten.
»Natürlich, Süße.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, und sie verschwand in der Menge.
Nina fiel ein, wer Timo Spiekerkötter war. Er moderierte eine beliebte Morgensendung im Radio mit wechselnden Gästen aus dem Kulturbereich, Vertretern bestimmter Berufsgruppen oder Lokalpolitikern. Doch Nina schaltete meist einen anderen Sender im Autoradio ein, wenn sie zur Arbeit fuhr. In der Regel waren menschliche Schicksale, Skandale und Skandälchen die Aufhänger, um sich gefühlsbetont, aber oberflächlich und wenig analytisch diversen Themen zu nähern.
»Wie wäre es mit dem Ratscafé?«, fragte Nina.
»Äh? Wo …«, begann Timo Spiekerkötter.
»Sie meint das Oma-Café gegenüber«, sagte sein Sohn.
Spiekerkötter lächelte. »Ach, das Kaffee-Kunst. Das ist doch völlig in Ordnung.«
»Sag ich ja. Oma- und Opa-Café.« Vincent verzog den Mund.
»Erwartest du, dass wir uns noch lange auf die Suche nach einem Laden begeben, der hip genug für dich ist, Vincent? Wir frieren! Und es ist Sturm angesagt!«
Im Kaffee-Kunst-Ratscafé, das an ein Wiener Kaffeehaus erinnerte, empfingen sie Wärme, gedämpftes Stimmengewirr und die perlenden Töne eines Swingstücks, das jemand am Klavier spielte. Nina brauchte eine Weile, um auf den Titel zu kommen: Autumn Leaves – passend zur Jahreszeit.
Vincent ließ sich in die Polster eines Sofas sinken und zog wieder sein Handy aus der Tasche, das ihm sein Vater im nächsten Moment abnahm und einsteckte. Vincent machte ein genervtes Gesicht, sagte aber nichts. Sie setzen sich und schauten sich die Karte an. Kurz darauf kam eine Kellnerin, die kaum älter als Vincent sein mochte, und nahm ihre Bestellungen auf. Vincent brachte sie in Verlegenheit, indem er nacheinander Aperol Spritz, einen Hugo, einen Mojito-Rum bestellte, die alle nicht auf der Karte standen. »Darf ich Ihnen vielleicht einen Weißwein empfehlen …« Sie deutete auf die Karte. »Wir haben einen …«
»Okay, dann also Wasser. Ohne Kohlensäure«, unterbrach Vincent sie schroff.
»Sehr gerne.« Sie verfärbte sich rötlich und eilte davon.
Mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, wandte sich Roman an Vincent. »Kommen wir zur Sache. Wo haben Sie sich am 18. und 19. Oktober aufgehalten?«
»Was soll denn die Frage?«, gab Vincent zurück.
»Ich habe meinen Sohn mittags von der Schule abgeholt, und dann sind wir zusammen mit meiner Lebensgefährtin zum Ausspannen ins Münsterland Golf- und Spa-Resort gefahren, wo wir heute Vormittag ausgecheckt haben. Warten Sie.« Timo Spiekerkötter kramte eine Visitenkarte des Resorts aus seiner Manteltasche und übergab sie Roman. »Die Angestellten des Hotels können das natürlich bestätigen. Ebenso meine Freundin Nadja.« Spiekerkötter kniff die Augen zusammen. »Am 19. Oktober haben wir uns die Burg Hülshoff angeschaut, stimmt’s, Vincent?«
Vincent lächelte. »Klar doch. Auf den Spuren der berühmten Dichterin.«
Nina war nicht sicher, ob das ironisch gemeint war.
»Sie wissen sicher, um welche es geht, nicht wahr?«, machte Vincent weiter, als wollte er überprüfen, ob die Polizei kulturell bewandert wäre.
Roman erwiderte das Lächeln. »Ich würde mich wirklich lieber mit Ihnen über Die Judenbuche oder Lyrik von Annette von Droste-Hülshoff unterhalten, aber leider geht es bei unserem Gespräch um ein so unappetitliches Thema wie Internet-Mobbing. Sagt Ihnen das Stichwort Schulschlampe etwas?« Roman zog ein Tablet aus seiner Notebookhülle, schaltete es ein und googelte die Seite.
»Hast du was damit zu tun?« Spiekerkötter sah seinen Sohn mit zusammengezogenen Brauen an.
Vincent war das Lächeln vergangen. »Sie können mir gar nichts nachweisen!«
»Nicht?« Roman grinste und schob das Tablet über den Tisch. Vater und Sohn beugten sich darüber.
»Wir haben Zeugenaussagen. Eine Mitschülerin und ein Freund von Ihnen haben voneinander unabhängig das Gleiche ausgesagt: Sie waren das!«, sagte Nina.
Roman warf ihr einen Blick zu. Er wusste nichts davon, dass sie am Nachmittag noch einmal Miriam zu Vincents Clique befragt hatte und es ihr gelungen war, David Westermeier, ein Mitglied dieser Clique, zu dieser Aussage zu bewegen. Anders als Vincent hatte David ziemlich geschockt von Charlottes Tod gewirkt.
»Wirklich?«, gab Vincent zurück. »Ich wette, das hat diese fette Lesbe Miriam von sich gegeben. Sie kann mich nicht ausstehen, sie hasst Männer, ist ja klar, so als Perverse. Wenn sie mir eins auswischen kann, ist sie dabei.«
»Wie gesagt, das hat auch ein Freund von Ihnen ausgesagt.«
»Ein Freund? Kann nicht sein. Ich meine, wer soll das denn gewesen sein?«
»Ist David Westermeier kein Freund von Ihnen?«, fragte Nina.
Vincents Augen wurden schmal. »David, schau an. Warum wundert mich das nicht?«
»Unschwer zu erkennen: Charlottes Kopf ist auf den Körper einer Pornodarstellerin moniert worden.« Roman wandte sich an Vincents Vater. »Sie wussten nichts davon?«
»Um Gottes willen, nein!« Timo Spiekerkötter schüttelte den Kopf und schob das Tablet beiseite. »Vincent, kannst du mir das mal erklä…«
»Okay, das war nicht nett von mir. Unser Lottchen war schon etwas speziell, aber … ich hätte das nicht tun sollen. Tut mir leid, das war … im Affekt oder so. Wir hatten uns gestritten.«
»Sie haben den Link zu der Seite praktisch in der ganzen Schule verbreitet.« Nina nahm ihren Kaffee von der Kellnerin entgegen, die ihnen die bestellten Getränke brachte.
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass …« Vincent brach ab und nahm einen Schluck Wasser. »Als die Nachricht von ihrem Tod kam … das war wirklich schlimm, das hat uns alle getroffen. Ich hoffe sehr, dass Sie den Täter kriegen.«
Es klang, als hätte er diese Sätze auswendig gelernt. Nina glaubte ihm kein Wort. »Worüber haben Sie sich gestritten?«
»Ach, na ja … also … ich hatte den Eindruck, Charlotte hielt sich für was Besseres, aber …«
»Aber?«, fragte Roman.
»Okay, sie sah gut aus, auf eine etwas nuttige Art vielleicht …«
»Vincent!« Timo Spiekerkötters Gesicht rötete sich. »Deine Mitschülerin ist tot! Und so redest du über sie?«
»Nuttig ist das falsche Wort, ich hab prollig sagen wollen.«
Sein Vater seufzte.
Roman verstaute das Tablet wieder in der Tasche. »Sie hat Sie abgewiesen, deswegen waren Sie wütend, nicht wahr?«
Vincent grinste schief. »Denken Sie ernsthaft, ich hätte Probleme, eine angemessene Freundin zu finden? Lotte … war mehr was für eine Nacht.«
Angemessene Freundin? Ninas Teelöffel landete klirrend auf ihrer Untertasse. »Und weil Sie Ihnen einen One-Night-Stand verweigerte, haben Sie diese ekelhaften Bilder von ihr in Umlauf gesetzt?!«
Vincent zuckte mit den Achseln. »Ich sagte doch schon, dass es mir leidtut.«
Timo Spiekerkötter sah seinen Sohn stirnrunzelnd an. Er ahnte wohl, dass Vincent gerade keine so gute Figur machte. »Haben Sie