Die silbernen Schlangen (Bd. 2). Roshani Chokshi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roshani Chokshi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801276
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Bisher schienen die Pläne zu stimmen, die sie sich im Vorfeld besorgt und angesehen hatten. Muster aus Sternen und Rhomben zierten das Mahagoniparkett. Schwebende Laternen erleuchteten die mit Gemälden geschmückten Wände. Sie stellten allesamt Frauen in Bewegung dar. Einige waren mythologisch inspiriert, andere wirkten modern. Enrique erkannte Salomes Tanz der sieben Schleier und eine Darstellung der indischen Nymphe Urvashi, die vor den Hindu-Gottheiten auftrat. Es war jedoch das Porträt einer ihm unbekannten Frau, das die Wand beherrschte. Blutrote Haare kringelten sich an ihrem weißen Hals hinab. Nach den Schuhen zu urteilen, die sie auf dem Schoß hielt, handelte es sich um eine Ballerina.

      Der Kammerdiener streckte die Hand aus. »Wir fühlen uns sehr …«

      Enrique hob die eigene Hand, zog sie aber zurück, ehe der Mann sie ergreifen konnte, damit er sein Zittern nicht bemerkte. »Unglücklicherweise ertrage ich es kaum, fremde Haut zu berühren. Dies erinnert mich stets an meine Sterblichkeit.«

      Der Kammerdiener wirkte ein wenig verstört. »Ich bitte inständig um Verzeihung.«

      »Anständig wäre mir lieber«, sagte Enrique blasiert und betrachtete seine Fingernägel. »Nun …«

      »Ist die fotografische Ausrüstung angekommen?«, mischte sich Zofia ein.

      Enrique brauchte einen Sekundenbruchteil, um seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen. Etwas musste Zofia abgelenkt haben. Sie brachte ihre Einsätze sonst nie durcheinander. Jetzt, da er sie ansah, bemerkte er außerdem, dass sich ihr Schnurrbart an den Rändern leicht ablöste.

      »Ja, ist sie. In einer äußerst geräumigen, verschlossenen Reisetruhe«, antwortete der Kammerdiener mit gerunzelter Stirn. Sein Blick irrte flüchtig zu Zofias Bart. »Verzeihen Sie, aber … ist alles in Ordnung?«

      Enrique stieß ein hysterisches Lachen aus.

      »Ah, dieser gute Mann! Wie aufmerksam er doch ist!« Er nahm Zofias Gesicht in die Hände und drückte unauffällig die Bartenden fest. »Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten … äh …«

      Enrique hielt inne. Das war leider alles, was er aus Hamlet behalten hatte. Da setzte Zofia ein: »… in Gestalt und Bewegung, wie bedeutend und wunderwürdig.«

      Sprachlos starrte Enrique sie an.

      »Sie müssen das exzentrische Gebaren meines Freundes verzeihen«, fuhr sie mit deutlich tieferer Stimme fort, nachdem sie sich offenbar wieder an ihre Rolle erinnert hatte. »Wären Sie so freundlich, mir einige der anderen Räume zu zeigen? Nur ein kurzer Rundgang, mehr wird nicht vonnöten sein. Ich möchte lediglich herausfinden, ob sich weitere Motive für den Artikel eignen.«

      Der Kammerdiener machte noch immer große Augen, nickte aber bedächtig. »Hier entlang, bitte …«

      Enrique drehte sich langsam um sich selbst, legte die Finger an die Schläfen und atmete tief ein. »Ich werde hier verweilen. Ich muss die Kunst zuerst in mich aufnehmen, sie fühlen, bevor ich mir herausnehme, über sie zu schreiben. Sie verstehen?«

      Der Bedienstete schenkte ihm ein angestrengtes Lächeln. »Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen.«

      Und damit führte er Zofia den Flur hinunter.

      Sobald sie außer Sicht waren, zog Enrique eine geschmiedete Kugel aus der Tasche, warf sie in die Luft und sah zu, wie sie den Raum nach Aufzeichnern absuchte. Die Worte des Kammerdieners hallten in seinem Kopf nach. Worauf Sie sich am besten verstehen. Er fühlte sich zurückversetzt in den Lesesaal der Nationalbibliothek, als er mit feuchten Fingerspitzen Notizen des Vortrags umklammert hatte, zu dem niemand erschienen war. Und als er den Brief der Ilustrados gelesen hatte.

      … Schreiben Sie Ihre inspirierenden historischen Artikel. Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen …

      Noch saß der Schmerz tief. Enriques Referenzen hatten ihm nichts genutzt. Er hatte ohnehin kaum erwartet, dass die Worte seiner Professoren und Mentoren großes Gewicht haben würden, aber dass nicht einmal Séverins Einfluss geholfen hatte … Dessen öffentliche Unterstützung bedeutete einen allerorts gleichermaßen hochgeschätzten Faktor: Geld. Doch womöglich waren seine Ideen so töricht, dass kein Geld der Welt es wert war, seinen Ausführungen zu lauschen. Vielleicht war er einfach nicht genug.

      Worauf Sie sich am besten verstehen.

      Enrique knirschte mit den Zähnen. Inzwischen war die Aufspürkugel auf dem Boden angelangt. Die Luft war rein. Am anderen Ende des Vestibüls hörte er Schritte. Zofia und der Kammerdiener kamen zurück. In wenigen Augenblicken würden sie den Göttinnensaal betreten, in dem sich die Tezcat-Brille befand, die sie letzten Endes zu der Göttlichen Lyrik führen würde. In den Augen der Ilustrados tat Enrique offenbar nichts weiter, als sich mit toten Sprachen und staubigen Büchern die Zeit zu vertreiben, und seine Ideen erschienen ihnen wertlos. Entdeckte er jedoch Die Göttliche Lyrik, wäre das Beweis genug, dass mehr in ihm steckte. Dann konnten sie nicht länger übersehen, dass seine Fähigkeiten Macht verhießen.

      Jetzt musste er das Buch nur noch auftreiben.

      DER ANBLICK DES Göttinnensaals ließ Enrique beinahe auf die Knie sinken. Er glich dem Foyer eines verlassenen Tempels. Lebensgroße Göttinnenstatuen lehnten sich aus Wandnischen, und an der reich verzierten himmelblauen Decke drehten sich mechanische Sterne und Planeten wie auf einer unsichtbaren Achse. Angesichts eines solchen Kunstwerks kam er sich klein und unbedeutend vor, allerdings auf eine erhabene Art, als wäre er Teil eines größeren Ganzen, umgeben von göttlicher Liebe. So hatte er früher während der Sonntagsmesse empfunden. Hier, in diesem Raum, durchströmte ihn seit Jahren zum ersten Mal dasselbe Gefühl.

      Ehrfurchtsvoll raunte der Kammerdiener: »Der Saal ist wahrlich überwältigend. Wenngleich nur für kurze Zeit.«

      Enrique wurde hellhörig. »Wie meinen Sie das?«

      »Der Göttinnensaal hat eine einzigartige Eigenschaft. Noch verstehen wir deren Funktion nicht vollständig, aber wir erhoffen uns, dass Ihr Artikel ein wenig Licht in die Sache bringen kann. Sie müssen wissen … die Göttinnen … verschwinden.«

      »Wie bitte?«

      »Jede Stunde«, bekräftigte der Mann. »Sie verschmelzen mit der Wand und die Goldornamente verblassen.« Er sah auf die Uhr. »Nach meiner Schätzung sollten Sie noch etwa zwanzig Minuten haben, bis alles unsichtbar wird, um erst zur darauffolgenden Stunde wiederzuerscheinen. Doch mir schien es genügend Zeit für Ihre Fotografien und Notizen. Zumal es hier drinnen empfindlich kalt wird, sobald die Tür geschlossen ist. Wir glauben, der Schöpfer dieses Kunstwerks hat einen geschmiedeten Mechanismus zur Temperaturkontrolle eingebaut, möglicherweise um den Stein und die Farbe zu schützen. Wie dem auch sei, lassen Sie es mich wissen, falls ich Ihnen behilflich sein kann.«

      Und damit verließ der Diener den Saal und schloss die Tür hinter sich. Enriques Herz klopfte ein stetes Oh nein, oh nein, oh nein.

      »Wo ist Hypnos?«, fragte Zofia.

      Wie aufs Stichwort drangen gedämpfte Geräusche an ihre Ohren. An einer der vergoldeten Wände, fast verdeckt von einer Säule, lehnte eine als Fotografieausrüstung gekennzeichnete Reisetruhe. Rasch öffnete Zofia die Schlösser. Der Deckel hob sich und mit säuerlicher Miene kletterte Hypnos heraus. Er schüttelte sich. »Das war höchst … unerquicklich.« Er seufzte theatralisch. Die plötzliche Helligkeit und die Schönheit des Zimmers ließen ihn blinzeln. Ein Ausdruck des Staunens huschte über sein Gesicht, war jedoch wie weggewischt, als er sich ihnen zuwandte. »Zofia, du bist zweifellos auch als junger Mann reizend, aber ohne den Bart gefällst du mir wesentlich besser … Warum ist es so kalt hier? Was habe ich verpasst?«

      »Wir haben nur zwanzig Minuten, bevor die gesamte Göttinnen-Installation verschwindet.«

       »Wie bitte?«

      Während Zofia die Situation erläuterte, begutachtete Enrique die Statuen in ihren Nischen. Sie ähnelten sich auf seltsame Art. Seinen Informationen zufolge stammten sie aus verschiedenen Tempeln rund um den Globus … und