Die silbernen Schlangen (Bd. 2). Roshani Chokshi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roshani Chokshi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801276
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      NACH SECHZIG MINUTEN wurde die Pause angekündigt.

      Der Vorhang schloss sich. Séverin lauschte, ob Wassiljew in der Loge nebenan sich erheben würde.

      »Ich habe genug gesehen.«

      Es war das erste Mal, dass Séverin ihn sprechen hörte, und er klang nicht wie erwartet. Wassiljew war ein breitschultriger Mann mit dunklem Haar und angegrauten Schläfen. Er machte einen kräftigen Eindruck, trotzdem war seine Stimme dünn, beinahe zart. Um seinen Hals lag eine Goldkette, an deren Ende die Linse der Tezcat-Brille funkelte.

      Laila stand auf, die Hand auf Séverins Schulter. Sie zog das Halsband der L’Énigme aus dem Dekolleté, legte es an und berührte es sacht. Sofort breitete sich der Kopfschmuck aus Pfauenfedern über ihr Gesicht, verdeckte ihre Augen und die Nase und ließ nur den Blick auf ihren Mund frei – eine sinnliche Verheißung.

      Ihr kokettes Lächeln schien den Menschen um sie herum Alibi genug, als sie sich kurz darauf aus der Menge lösten, hinunter zu den Dienstbotengängen schlichen und in einen dunklen Flur einbogen, der abseits des Foyers lag.

      Den Eingang zu Wassiljews Privatsalon bildeten zwei dreieinhalb Meter große Marmorhände, die zum Gebet aneinandergelegt waren. Wurde jemandem Zutritt gewährt, glitten die Handflächen wie Türflügel auseinander. Séverin betrachtete das Portal. Bei allen Akquisitionen war es das Gleiche. Jedes Versteck enthielt eine geheime Botschaft, von der der Eigentümer hoffte, sie würde ihn überdauern. Der Kniff an der Sache war, den Zusammenhang zu verstehen. Bei Wassiljews Aufenthaltsraum war es nicht anders. Man hätte denken können, die Hände repräsentierten einen Gast, der Wassiljew gegenüber seine Demut zum Ausdruck brachte. Doch Séverin vermutete, das genaue Gegenteil war der Fall. Die Türen ragten so weit hinauf, dass sie jeden Menschen – ungeachtet dessen Statur – klein erscheinen ließen. Die Geste wirkte entschuldigend. Für Séverin glich sie einem öffentlichen Schuldbekenntnis. Womöglich war es die gleiche Schuld, die Wassiljew dazu veranlasste, die Tezcat-Linse des Gefallenen Hauses stets bei sich zu tragen. Als Andenken an seine verstorbene, geliebte Ballerina.

      Séverin begutachtete die beiden Wachposten. Der eine hatte ein Bajonett geschultert, und so, wie er das Gewicht auf eine Seite verlagerte, tippte Séverin auf ein verletztes Bein. Der andere hielt die Hände locker vor dem Körper verschränkt. Als er Laila entdeckte, grinste er schmierig.

      »Mademoiselle L’Énigme!«, sagte er und neigte den Kopf. »Ich habe gehört, dass Sie heute Abend hier sein würden.«

      Er nahm kaum Notiz von Séverin, der hinter Laila stand.

      »Was verschafft uns die Ehre?«

      Laila lachte. Ein schrilles, falsches Lachen.

      »Wie mir mitgeteilt wurde, erwartet mich einer meiner Bewunderer in diesem Salon und wünscht, mir persönlich Guten Abend zu sagen.«

      »Ach, Mademoiselle, ich würde ja gern …« Der Wachmann grinste anzüglich. »Aber ohne das hier ist es Ihnen leider nicht gestattet, einzutreten.« Er hob die Hand und offenbarte das apfelförmige Blutschmiedetattoo. »Oder haben Mademoiselle womöglich irgendwo eins versteckt?«

      Sein Blick wanderte ihren Körper hinab, und Séverin verspürte das dringende Bedürfnis, ihm das Genick zu brechen.

      »Sie dürfen das gern überprüfen«, erwiderte Laila schmeichelnd.

      Der Wachmann machte große Augen. Er richtete seinen Kragen und ging auf sie zu. Laila hob den Saum ihres Kleides und streckte ihr bronzefarbenes Bein zur Begutachtung hervor. Séverin zählte von zehn rückwärts.

       9 …

      Der Mann führte eine Hand an ihren Oberschenkel.

       7 …

      Die andere steuerte auf ihre Hüfte zu. Laila lachte gekünstelt.

       4 …

      In dem Moment, als er zupackte, zog Laila ein Messer und setzte es ihm an den Hals. Unnütz stand Séverin mit seinem eigenen dahinter.

      »Hilfe!«, rief der Wachmann seinem Kollegen zu.

      Doch der machte keinerlei Anstalten, sein Bajonett zu zücken.

      »Halt mir dieses Weibsstück vom Leib!«

      Mit erhobenem Messer trat Séverin vor. »Ich fürchte, der arbeitet nicht für Sie, sondern für uns.«

      Laila presste die Klinge fester an die Haut des Mannes.

      »Wenn Sie mich umbringen, kommen Sie nicht hinein.« Er fing an zu schwitzen. »Sie brauchen mich.«

      »Falsch«, sagte Laila. »Wir brauchen nur Ihre Hand.«

      Seine Augen weiteten sich. »Nicht, bitte …«

      Laila sah zu Séverin. Der hob das Messer höher.

      »Nein …«

      Séverin ließ seine Hand niedersausen, änderte aber im letzten Moment den Winkel und schlug dem Mann mit dem Griff auf den Hinterkopf. Der sackte in sich zusammen.

      »Widerlicher Typ«, zischte Laila und steckte ihr Messer wieder ein. Als sie Séverins Blick bemerkte, zuckte sie nur die Achseln. »Ich wollte dir noch sagen, dass ich ihn auch alleine außer Gefecht setzen kann. Aber du wolltest mir ja nicht zuhören.«

      Dazu fiel Séverin nichts mehr ein.

      Mithilfe der Wache von Haus Nyx schleiften sie den Bewusstlosen zum Eingang und hielten sein Handgelenk mit dem Blutschmiedetattoo an die dafür vorgesehene Stelle. Als sich die Türflügel ruckelnd öffneten, ließ Séverin den Mann auf den Boden plumpsen.

      Er warf der anderen Wache einen Blick zu. »Bereite die Hochzeitskutsche vor.«

      Der nickte und eilte davon.

      Im Inneren des Salons hingen opulente Vorhänge, Porträts einer rothaarigen Ballerina zierten die lakritzschwarzen Wände. Wassiljew saß an einem Schreibtisch und schien zu zeichnen. Beim Anblick von Laila und Séverin stürzten seine Männer vor.

      »Ziemlich staubig hier drin, nicht?«, fragte Séverin.

      Er drückte auf den mit den Magneten verbundenen Siegelring von Zofia. Sofort flogen die Wachen rücklings in die vier Ecken des Raumes.

      Früher an diesem Tag hatten sich einige ihrer Leute als Handwerker ausgegeben, unter Zofias Anleitung ein paar kräftige Magnetpfosten aufgebaut und etwas von dem Resistenzpuder unter dem Schreibtisch verteilt.

      Mit blassem Gesicht starrte Wassiljew sie an.

      »Aber wie …?«

      »Magnete«, sagte Séverin mit einem grimmigen Lächeln. »Faszinierend, nicht wahr? Es reichen winzige magnetische Partikel auf einem Schuh, um der Anziehung standzuhalten. Und jetzt: Ihre Kette samt Linse, wenn ich bitten darf.«

      Er hätte erwartet, dass Wassiljew die Forderung verwirrte. Stattdessen jedoch neigte der Mann sein Haupt. Sein gesamter Körper drückte Schuld aus. Ebenjene Schuld, die Séverin zuvor bereits in der Gestaltung des Eingangs erkannt hatte.

      »Ich wusste, dass dieser Moment irgendwann kommen würde.«

      Séverin runzelte die Stirn und wollte gerade etwas sagen, da griff Wassiljew zu einem Champagnerglas, trank es in einem Zug leer und schüttelte sich. Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.

      »Begnadet der, der seine Bürde kennt«, sagte Wassiljew. Sein Blick wanderte zu dem Champagner. »Sehr freundlich von Ihnen, mit der Geistschmiedekunst veredelten Champagner bereitzustellen. Er befreit von jeglichen Schuldgefühlen, obwohl mir ohnehin wenige Menschen geblieben sind, denen ich heutzutage Rede und Antwort stehen muss.«

      Wassiljew löste die Kette von seinem Hals. Seine Bewegungen wirkten fahrig. Die Tezcat-Linse funkelte hell im dunklen Raum. Sie war so groß wie ein gewöhnliches Monokel und eingefasst in etwas, das aussah wie ein Schlüssel. Er legte sie auf die Tischplatte. Allmählich senkten sich seine Lider.

      »Sie