Die silbernen Schlangen (Bd. 2). Roshani Chokshi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roshani Chokshi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801276
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Kinn sackte ihm auf die Brust, als er das Bewusstsein verlor. Laila sah zu Séverin, das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.

      »Von wem redet er?«

      Doch darauf wusste auch Séverin keine Antwort.

      Zofia

      Zofia zog das nun futterlose Sakko wieder an und riss einen der Phosphoranhänger von ihrer Kette.

      Während der letzten Monate hatte sie die Formel perfektioniert und musste ihn jetzt lediglich dicht an ein Objekt halten, um herauszufinden, ob sich dahinter ein verborgenes Portal befand. Nacheinander hob sie den Anhänger an alle Statuen, doch nirgendwo leuchtete er auf.

      Für das, was hier versteckt war, gab es andere Vorsichtsmaßnahmen. Zofia runzelte die Stirn. Sie zitterte. Arktische Luft umgab sie. Plötzlich erblühte ein weißer Fleck an der Tür, wuchs, übertünchte die Goldverzierungen auf den Fliesen und kroch die Wände hoch. Sobald das Weiß die Göttinnen erreichte, zogen sie sich langsam, aber unaufhaltsam in ihre Nischen zurück. In ein paar Minuten wären sie vollkommen verschwunden. Selbst das Rätsel auf dem Boden verblasste allmählich.

      LIEBEVOLL VERSIEGELTE LIPPEN

      ZEUGEN VON GEHEIMNISSEN

      EINST BEKANNT

      Damit konnte Zofia erst einmal nichts anfangen, doch in Enriques Augen bemerkte sie einen neuen Glanz. Rechts neben ihm stand Hypnos und fuhr sich grübelnd über die Lippen. »Darauf kann ich mir wirklich keinen Reim machen«, verkündete er.

      »Dann behalte du die Zeit und die Tür im Blick«, antwortete Enrique und näherte sich den Skulpturen. »Der Kammerdiener meinte, wir hätten zwanzig Minuten. Zofia?«

      Zofia befestigte ihren Anhänger wieder an der Kette. »Kein Anzeichen für ein Tezcat-Portal. Falls es eins gibt, dann ist es außergewöhnlich gut getarnt.«

      Enrique lief langsam auf und ab. Zofia kramte in den Taschen ihres Sakkos und brachte noch mehr Chardonnet-Seide, eine Streichholzschachtel und eine Garnitur kleiner Meißel zum Vorschein, nebst einem geschmiedeten Eisstift, der Wasser aus der Luft sog und gefrieren ließ. Zofia nahm den Raum genauestens unter die Lupe, aber keiner der Gegenstände schien ihr besonders zweckmäßig.

      »Ich h-hätte ein Z-Zeichen v-vermutet, einen H-Hinweis auf den Schatz.« Hypnos blies in die Hände, um sich aufzuwärmen.

      »Wie ein X auf einer Schatzkarte?«, fragte Enrique.

      »Das wäre durchaus hilfreich.« Vor Empörung vergaß Hypnos, mit den Zähnen zu klappern. »Jemand sollte diesem Schatz mitteilen, dass er unsere Geduld auf eine unangemessen harte Probe stellt. Der Einfachheit halber hätte man ihn ja wenigstens in einer der Göttinnen verstecken können. Stattdessen kredenzt man uns hier seltsame Lippenrätsel.«

      »Phönix, hattest du schon mehr Glück? Irgendetwas Neues entdeckt?«, wandte Enrique sich an Zofia.

      »Glück ist nutzlos.«

      »Na schön, dann eben Erfolg?«

      »Nein.«

      »Mythologisch gesehen suchen wir etwas, das Dinge hüten oder verbergen soll. Wir haben zehn Göttinnen. Vielleicht erzählt man sich über eine von ihnen Geschichten, in denen es darum geht, etwas zu verstecken?«

      »Und woran erkennen wir, um welche Göttin es sich handelt?«, fragte Hypnos.

      »Ikonografie.« Enrique musterte die Statuen. Für Zofia sahen sie alle gleich aus, bis auf die Gegenstände in ihren Händen.

      Plötzlich schnipste Enrique mit den Fingern. »Natürlich! Das sind die neun Musen aus der griechischen Mythologie, die Göttinnen der Künste. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin! Seht ihr die Lyra?« Er deutete auf eine der Figuren, die eine Art goldene Harfe im Arm hielt. »Das muss Kalliope sein, die Muse der epischen Dichtung. Neben ihr steht Erato, die Muse der Liebeslyrik, mit einer Kithara, und da drüben ist Thalia, die Muse der Komödie, mit ihrer lachenden Theatermaske.«

      Zofia betrachtete die Skulpturen mit neuem Interesse. Für sie waren es Meisterleistungen der Schmiedekunst. Marmor, veredelt durch die Gabe der Materie. Doch sonst verrieten sie ihr nichts. Lauschte sie jedoch Enrique, war es, als ginge in ihr ein Licht auf, und sie wollte immer mehr hören.

      Vor einer Göttin mit ausgebreiteten Flügeln blieb Enrique stehen. »Seltsam, dass es eine zehnte Statue gibt. Diese hier passt nicht in die Reihe. Warum überhaupt Musen? Vielleicht in Anlehnung an die Sage des Ordens von den Verlorenen Musen?«

      »Dieses Kunstwerk stammt aber nicht vom Orden«, erinnerte Zofia ihn.

      »Recht hast du.« Enrique nickte nachdenklich. »Und dann ist da diese zehnte Göttin, die keinen Sinn ergibt. Sie ist in der Tat sehr bemerkenswert, seht euch nur die Form –«

      »Das ist jetzt nicht der Augenblick, in Verzückung zu geraten«, tadelte Hypnos und deutete auf den Boden. »Wenn ich richtig gezählt habe, sollten wir noch etwa zehn Minuten haben.«

      Inzwischen überzog der weiße Hauch fast die Hälfte des Raumes und kroch bereits über die Beine von fünf Statuen.

      »Ich glaube, diese hier ist gar keine Göttin«, sagte Enrique. »Ich erkenne keine aussagekräftigen ikonografischen Bezüge. An den Flügeln hat sie etwas Blattgold, aber das will nicht viel heißen. Und ihre Miene ist vollkommen ausdruckslos.«

      Zofia rührte sich nicht, doch irgendetwas an der Statue rief ihr die Kindheit mit ihrer Schwester ins Gedächtnis.

      »Lasst mich auch mal sehen«, beschwerte sich Hypnos und trat dichter an die Figur heran. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Also, wenn ich so aussähe, würde ich mich jedenfalls nicht als Göttin bezeichnen. Nichts an dieser Aufmachung sagt: Kniet nieder, ihr Sterblichen!«

      »Das ist auch keine Gottheit … sondern ein Seraph. Ein Engel«, gab Enrique zurück. Er fuhr mit der Hand über Gesicht und Schultern der Statue und dann am Körper hinab.

      Hypnos stieß einen Pfiff aus. »Oh, là, là, ganz schön forsch von dir!«

      »Ich versuche lediglich, eine Unregelmäßigkeit zu entdecken, einen Mechanismus, der zum Vorschein bringt, was auch immer sie verstecken mag.«

      Das Weiß war mittlerweile bis zu der Engelsskulptur vorgedrungen. Es breitete sich zunächst an den Füßen aus und zog den Marmor allmählich zurück in die Wand. Zofias Atem bildete Wölkchen. Je länger sie den Engel betrachtete, desto stärker drängte sich ein Kinderspiel in ihr Bewusstsein, das sie und Hela früher gespielt hatten. Sie hörte ihre Schwester flüstern: Kannst du ein Geheimnis für dich behalten, Zosia?

      »Hypnos? Zofia? Irgendwelche Ideen?«, fragte Enrique.

      »Liebevoll versiegelte Lippen zeugen von Geheimnissen, einst bekannt«, murmelte Zofia und berührte ihren Mund. Dann trat sie zu den anderen beiden. »Hela und ich hatten früher ein Spiel – es hatte mit einer Geschichte zu tun, die uns unsere Mutter erzählt hat. Sie handelt von Engeln und Kindern: Bevor wir geboren werden, kennen wir alle Geheimnisse des Universums. Doch bei der Geburt legt uns ein Engel einen Finger auf die Lippen, um sie zu versiegeln. Deshalb hat jeder Mensch eine Vertiefung über der Oberlippe.«

      Hypnos hob die Brauen. »Hübsche Geschichte …«

      Doch Enrique grinste. »Gar nicht so abwegig … es verdeutlicht das Konzept der Anamnesis

      Zofia blinzelte.

      »Klingt wie eine Krankheit«, sagte Hypnos.

      »Das ist die Idee des kosmischen Verlusts der Unschuld mit der Geburt. Der Daumenabdruck eines Engels passt doch perfekt zum Rätsel, da die Lippen noch von den Geheimnissen zeugen, die der Engel in uns versiegelt hat. Und zwar buchstäblich liebevoll: Gemeint sind der Amorbogen, nach dem römischen Gott der Liebe, und das Philtrum, von griechisch Liebeszauber. Diese Vertiefung direkt unter der Nase … und