Die silbernen Schlangen (Bd. 2). Roshani Chokshi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roshani Chokshi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801276
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sie verstummte, ließ er die angehaltene Luft aus seiner bereits schmerzenden Lunge strömen.

      »Nicht aufhören, Hypnos!«, kam es von Laila.

      Séverin kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie gerade lächelte, obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sein Pulsschlag übertönte den Nachhall der Melodie. Zu lächeln fiel ihr leicht. Aber sie hatte schließlich auch nichts verloren. Sie mochte ein wenig enttäuscht darüber sein, dass sie Die Göttliche Lyrik nicht gefunden hatten. Jedoch hatte sie mit dem Buch nur die Neugier hinsichtlich ihrer Vergangenheit befriedigen wollen.

      »Seit wann kannst du so gut Klavier spielen?«, fragte sie.

      »So gut ist er nun auch wieder nicht«, brummelte Enrique.

      Vor zwei Jahren hatte Enrique angefangen, das Klavierspiel zu erlernen. Sehr zum Verdruss aller anderen. Denn kurz darauf donnerten seine »Melodien« durch die Flure. Tristan hatte behauptet, ihm gingen die Pflanzen deswegen ein. Irgendwann hatte Zofia dann »aus Versehen« eine holzzersetzende Lösung über das Instrument geschüttet und seine Übungen damit ein für alle Mal beendet.

      Wieder setzte die Musik ein und beschwor weitere Erinnerungen herauf. Séverin krallte die Fingernägel in die Handfläche. Lasst mich in Ruhe, flehte er seine Dämonen an. Sie verschwanden, hinterließen aber den vermeintlichen Duft von Tristans Rosen.

      Dieser erinnerungsschwere Geruch brachte ihn ins Straucheln. Gerade noch rechtzeitig riss er den Arm hoch, um sich im robusten Türrahmen abzustützen. Abrupt erstarb die Musik.

      Er blickte auf. Hypnos war über das Klavier gebeugt und hatte mitten in der Bewegung innegehalten. Laila saß kerzengerade auf ihrem Lieblingsplatz, der grünen Chaiselongue, Zofia auf ihrem Hocker, eine ungeöffnete Streichholzschachtel im Schoß. Und Enrique schritt nicht mehr auf und ab, sondern war vor seinen Aufzeichnungen zur Göttlichen Lyrik, die am Bücherregal hingen, stehen geblieben.

      Vor Séverins innerem Auge schoben sich zwei Bilder übereinander.

      Früher. Heute.

      Früher hätte es Tee und Butterplätzchen gegeben. Gelächter. Langsam richtete er sich auf, ließ den Türrahmen los und zupfte seine Manschetten zurecht. Herausfordernd sah er die anderen an.

      Niemand erwiderte seinen Blick. Bis auf Hypnos.

      »Wie ich höre, hast du gute Neuigkeiten für uns, mon cher

      Séverin nickte steif und deutete auf die Notizen am Bücherregal.

      »Bevor ich anfange, fassen wir noch einmal zusammen, was wir bereits wissen …«

      Hypnos seufzte. »Muss das sein?«

      »Das letzte Mal ist lange her«, sagte Séverin.

      »Knapp zwei Monate, um genau zu sein«, gab Laila spitz zurück.

      Séverin sah sie nicht an. Stattdessen gab er Enrique ein Zeichen. Für einen Moment starrte Enrique ihn ausdruckslos an, dann begriff er. Er räusperte sich und deutete auf eine Skizze, die ein Hexagramm – das Emblem des Gefallenen Hauses – und eine goldene Honigbiene sowie den Turm von Babel zeigte.

      »In den letzten Monaten haben wir versucht, Die Göttliche Lyrik ausfindig zu machen, ein uraltes Buch über das Geheimnis der Schmiedekunst. Mit dem darin enthaltenen Wissen soll man die Babelfragmente zusammenfügen können und – laut dem Gefallenen Haus – zu göttlicher Macht gelangen«, sagte Enrique. Er suchte Séverins Blick, als wollte er sichergehen, dass er auch auf dem richtigen Weg war. Séverin hob die Augenbrauen.

      »Äh … zum Buch selbst gibt es nur wenige Informationen«, beeilte er sich zu sagen. »Die meisten davon stammen aus Legenden. Der einzig sichtbare Beleg für die Existenz des Buchs ist die verblasste Schrift auf einem Stück Pergament. Ein Tempelritter soll damals den Titel niedergeschrieben haben. Allerdings fehlen einige Buchstaben …«

      Enrique zeigte ihnen eine Abbildung:

      DIEGÖTTLICHELYR

      »Der Überlieferung zufolge gibt es das Buch schon seit der babylonischen Sprachverwirrung«, fuhr er fort. Der altbekannte Glanz der Aufregung trat in Enriques Augen. »Angeblich haben ein paar Frauen die obersten Steine des Turms berührt, wodurch ihnen das Wissen der heiligen Sprache zuteilwurde. Diese Erkenntnisse hielten sie in einem Buch fest und machten es sich und ihren Nachfahren zur Aufgabe, die Geheimnisse darin zu hüten, damit niemand die heilige Sprache dazu missbrauchen könnte, den Turm von Babel wiederzuerrichten. Ist das nicht faszinierend?«

      Enrique lächelte, seine Hand flog zur nächsten Skizze, auf der neun Frauen abgebildet waren.

      »Man nannte sie die Verlorenen Musen, vermutlich in Anlehnung an die griechischen Göttinnen der Künste und Inspiration. Überaus passend, wenn man bedenkt, dass das Schmieden ebenfalls als göttliche Kunst betrachtet wird. In der Antike hat man den Musen zahlreiche Denkmäler gesetzt.« Er starrte wehmütig auf die Bilder. »Und über Die Göttliche Lyrik wird berichtet, es handele sich dabei nicht bloß um irgendein Buch, das jeder lesen kann, sondern man brauche besondere Fähigkeiten dafür, die ausschließlich an die Nachfahren der Verlorenen Musen vererbt würden.«

      »Was für ein Schwachsinn«, spottete Hypnos und schlug wieder und wieder dieselbe Taste auf dem Klavier an. »Die Fähigkeit, ein Buch zu lesen, soll auf eine Blutlinie zurückzuführen sein? So funktioniert Schmiedekunst nicht. Die Gabe wird nicht vererbt. Sonst würde ich eine für die Geistschmiedekunst besitzen.«

      »Mythen sollte man nicht rundheraus abtun«, widersprach Enrique leise. »Die meisten Mythen sind nur mit Spinnweben verklebte Wahrheiten.«

      Hypnos’ Gesichtszüge wurden weicher. »Oh, aber natürlich, mon cher. Nichts läge mir ferner, als dein Handwerk zu verhöhnen.«

      Er warf ihm eine Kusshand zu und Enrique … errötete. Séverin runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her. Hypnos fing seinen Blick auf und grinste schief.

      Offenbar hatte er etwas verpasst.

      Rasch lenkte Séverin seine Aufmerksamkeit wieder auf Enrique, der eine vergilbte Karte entrollte. Sie zeigte den südlichen Zipfel des indischen Subkontinents. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Laila sich beinahe wehmütig vorbeugte. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus.

      »Zuletzt befand sich Die Göttliche Lyrik in Pondicherry, Indien«, sagte Enrique. »Laut den Dokumenten des Babelordens schickte man damals jemanden aus dem Orden los, um das Buch zu holen, doch als der Bote dort ankam, hatte bereits jemand das Artefakt im Namen des Ordens an sich genommen …«

      »… woraufhin der Diebstahl für knapp zwanzig Jahre unter den Teppich gekehrt wurde und man behauptete, es wäre verschwunden«, fügte Hypnos hinzu.

      Enrique nickte. »Dank Roux-Joubert wissen wir aber, dass wir Die Göttliche Lyrik am ehesten im Schlafenden Palast finden … und genau dort endet unsere Spur.« Er sah zu Séverin. »Es sei denn, du konntest tatsächlich in Erfahrung bringen, wie wir zum Palast gelangen.«

      Früher war dieser Moment immer der beste gewesen – der Moment, in dem er etwas Neues enthüllte und dabei zusah, wie sich die Überraschung auf ihren Gesichtern abzeichnete. Er hatte mit Vorliebe geheimnisvolle Andeutungen auf ihre nächste Akquisition gemacht. Zum Beispiel hatte er Laila einmal eine über und über mit goldenen Rosen verzierte Torte backen lassen, weil sie kurz darauf in Griechenland nach der Hand des Midas gesucht hatten. Diesmal konnte er ihnen nicht einmal in die Augen sehen.

      »Ja«, sagte er daher nur und blieb in der Tür stehen. »Die Koordinaten des Schlafenden Palasts werden nur von einer Tezcat-Brille offenbart, und wo die sich befindet, weiß ich.«

      Zofia beugte sich interessiert vor. »Eine Brille?«

      Da zerschnitt Lailas Stimme die Luft. »Und woher stammt dieses Wissen?«, fragte sie kühl.

      Sie sah ihn nicht an, er sah sie nicht an.

      »Von einem Informanten«, gab Séverin ebenso kühl zurück. »Noch