Die silbernen Schlangen (Bd. 2). Roshani Chokshi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roshani Chokshi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801276
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      »Es ist sehr selten, dass man jemanden findet, der sowohl den Geist als auch das Eisen im Blut manipulieren kann«, fügte Hypnos hinzu. Er grinste verschmitzt. »Aber auch äußerst erquicklich.«

      Séverin war derartigen Künstlern im L’Éden schon einige Male begegnet. Viele von ihnen konzentrierten sich bei der Optimierung ihrer Fähigkeiten jedoch lieber auf das Schmieden von Eis. Diejenigen aber, die sich auf Blut spezialisierten, wurden vor allem von Klienten aufgesucht, die es entweder nach Betäubung während schmerzhafter medizinischer Eingriffe verlangte oder nach Entspannung, um die Sinne für gewisse »Vergnüglichkeiten« zu schärfen.

      »Wir brauchen etwas, um Wassiljew von seinen Wachen zu trennen«, sagte Séverin. »Etwas, das Menschen entzweien kann …«

      »Geld?«, fragte Enrique.

      »Liebe!«, steuerte Hypnos bei.

      »Magnete«, sagte Zofia.

      Laila, Enrique und Hypnos starrten sie an.

      »Starke Magnete«, verbesserte sich Zofia.

      »Kriegst du das hin?«, fragte Séverin.

      Zofia nickte.

      »Damit haben wir aber noch nicht geklärt, wie wir in den Salon kommen«, gab Enrique zu bedenken.

      »Was das betrifft, habe ich schon eine Idee«, sagte Laila. »Schließlich bin ich L’Énigme, und wenn ich das möchte, eilt mein Ruf mir weit voraus.«

      Widerwillig sah Séverin sie nun doch an. Tausend Bilder setzten sich vor seinen Augen zusammen und zerfielen wieder. Er sah ihr zuckerbestäubtes Haar. Ihren Körper – verschwommen am Rande seines Blickfeldes – an dem Abend im Palais des Rêves, an dem er sich auf sie geworfen hatte, weil er dachte, Roux-Joubert hätte es auf sie abgesehen. Er erinnerte sich an die Worte, die sie so sehr verletzt hatten, und wünschte inzwischen, sie wären wahr. Wenn sie doch nur nicht echt wäre!

      Fragend sah Laila ihn an. »Ich soll dir doch helfen, oder etwa nicht?«

      »Ja.« Séverin tat so, als würde er seine Ärmel zurechtzupfen. »Übermorgen brechen wir auf nach Sankt Petersburg. Bis dahin haben wir noch eine Menge zu tun.«

      »Und was machen wir, sobald wir die Tezcat-Brille haben?«, fragte Hypnos. »Informieren wir den Orden und –«

      »Nein«, unterbrach Séverin ihn scharf. »Ich will nicht, dass sie sich einmischen. Nicht, bevor wir nicht genau wissen, womit wir es zu tun haben. Bald findet die Winterversammlung in Russland statt. Wenn wir bis dahin mehr in Erfahrung gebracht haben, weihen wir sie ein.«

      Hypnos runzelte die Stirn, doch Séverin ging nicht weiter darauf ein. Das hier würde er sich vom Orden nicht nehmen lassen. Nicht nach allem, was passiert war. Séverin wandte sich ab, um zu gehen. Draußen wurde es allmählich dunkel.

      Früher hatte ihm dieser Raum zeigen sollen, dass die Sterne in Reichweite waren. Früher hatten sie alle den Kopf in den Nacken gelegt und staunend in den Himmel hinaufgesehen. Nun aber schienen die Sterne sie mit ihrem strahlenden Weiß zu verhöhnen: das spöttische Grinsen des Schicksals. Konstellationen, die sich wie eine überirdische Handschrift über das Firmament zogen und das unabänderliche Los aller Sterblichen festlegten. Jedoch nur, bis sie das Buch fanden, dachte Séverin.

      Dann könnten die Sterne ihnen nichts mehr anhaben.

      Laila

      Laila sah zu, wie Séverin die Sternwarte verließ. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte.

      Einerseits wagte sie zum ersten Mal seit Wochen wieder zu hoffen. Sollte Séverins Informant recht behalten, bot sich ihr womöglich doch noch die Chance auf mehr Lebenszeit. Andererseits wurde ihre aufkeimende Euphorie von dem Hass auf Séverin überlagert. Sie verabscheute die Kälte, die aus seinen Augen sprach, und den hämischen Zug um seinen Mund, wenn er lächelte. Und sie verabscheute den Schmerz, der sie bei seinem Anblick durchfuhr und sie daran erinnerte, dass er sie einst in Erstaunen versetzt hatte.

      Am schlimmsten aber war die Hoffnung, dass er, sobald er Die Göttliche Lyrik erst einmal gefunden hatte, wieder so werden könnte wie früher. Als würde er nur unter einem Bann stehen. Laila gab sich alle Mühe, diese Illusion im Keim zu ersticken, doch sie hielt sich hartnäckig in ihrem Herzen.

      Während Enrique etwas von wegen »Bibliothek« murmelte, sagte Zofia leise: »In meinem Labor –«

      »Non«, unterbrach Hypnos sie streng und bedeutete ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren. »Ihr bleibt hier. Ich bin sofort zurück. Ich habe eine Überraschung für euch.«

      Er stürzte davon und ließ die drei allein. Laila musterte Zofia von der Seite. Vor der Zusammenkunft hatte sie kaum Zeit gehabt, mit ihr zu sprechen. Jetzt aber fielen ihr einige Sachen an ihr auf. Sie trug noch immer ihre Reisekleidung, hatte geisterhaft violette Schatten unter den Augen, und ihr Gesicht wirkte seltsam dünnhäutig, wie von Kummer gezeichnet. So sollte man nicht aussehen, wenn man gerade Chanukka mit seiner Familie gefeiert hatte.

      »Geht’s dir gut, Zofia? Isst du genug?«

      Bevor Laila aus dem L’Éden ausgezogen war, hatte sie den Köchen genaue Anweisungen für die Vorbereitung von Zofias Mahlzeiten aufgeschrieben. Zofia mochte es nicht, wenn sich das Essen auf ihrem Teller berührte, sie mochte kein zu buntes oder gemustertes Geschirr und ihr Lieblingsnachtisch waren kreisrunde, helle Butterplätzchen. Früher hatte Laila sich um all das gekümmert. Doch das war vorbei. Daher beschlich sie nun ein noch schlechteres Gewissen, als es sowieso schon der Fall gewesen war. Was gab ihr das Recht, Zofia Löcher in den Bauch zu fragen, wo sie selbst das Hotel verlassen hatte? Sie war diejenige, die sich distanziert hatte.

      Laila drehte den Granatring an ihrem Finger. Manchmal fühlte sich ihr Geheimnis an wie ein Gift, das langsam in ihr Blut sickerte. Am liebsten hätte sie es den anderen erzählt, sich von dieser Last befreit. Aber was, wenn die Wahrheit sie abschreckte? Schließlich hatte ihr eigener Vater es kaum ausgehalten, sie anzusehen. Sie wollte die Familie, die ihr blieb, nicht auch noch verlieren.

      Zofia zuckte die Achseln. »Also, Goliath hat jedenfalls beunruhigend wenig Appetit.«

      »Wenn man bedenkt, dass immerzu nur Grillen auf seiner Speisekarte stehen, kann ich es ihm nicht verdenken«, neckte Laila.

      »Er isst nicht so viele Grillen, wie er sollte«, erwiderte Zofia, nahm ein Streichholz aus der Schachtel und steckte es sich zwischen die Zähne. »Ich habe eine Tabelle angelegt und die Menge dokumentiert, die er zu sich nimmt. Die Kurve fällt stetig. Ich könnte sie dir zeigen …«

      »Das glaube ich dir auch so«, sagte Laila. »Aber danke.«

      Zofia starrte auf ihren Schoß. »Ich weiß einfach nicht, was mit ihm los ist.«

      Fast hätte Laila im Reflex Zofias Hand ergriffen. Was für sie ein Zeichen der Zuneigung war, bedeutete für Zofia jedoch nicht zwangsläufig dasselbe. Zofia richtete den Blick auf das schwarze Kissen, auf dem Tristan immer gesessen hatte und das nun unter dem Kaffeetisch lag.

      »Vielleicht trauert Goliath«, sagte Laila sanft.

      Zofia sah sie an. »Ja, vielleicht.«

      Es sah aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen, da schlenderte Enrique zu Laila herüber.

      »Wir zwei müssen uns mal unterhalten«, murmelte er und setzte sich vor sie.

      »Es gibt nicht viel zu erzählen«, erwiderte sie.

      Er bedachte sie mit einem Ausdruck, der klar zu sagen schien: »Ich glaube dir kein Wort.« Doch er hakte nicht weiter nach. Sie hatte ihm zwar von dem Jaadugar in ihrem Dorf berichtet, der einst Die Göttliche Lyrik gehütet hatte, mehr aber auch nicht. Enrique und Zofia wussten beide, dass sie das Buch unbedingt finden wollte, nur nicht, warum. Und sie brachte es nicht über sich, ihnen ihr Geheimnis anzuvertrauen.

      Leise