Die silbernen Schlangen (Bd. 2). Roshani Chokshi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roshani Chokshi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801276
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Bei jedem Schritt wirbelten Schneeflocken auf und landeten wie kalte Küsse in seinem Nacken.

      Sankt Petersburg war eine Stadt in der Schwebe zwischen althergebrachter und moderner Magie. Elektrische Straßenlaternen warfen Kreise goldenen Lichts, Brücken spannten sich wie Engelsflügel. Doch die Schatten wirkten zu scharf, und die Winterluft roch metallisch, wie nach getrocknetem Blut.

      Neben Enrique und Zofia glänzte die Newa wie schwarzes Glas. Die Lichter aus den palastartigen Häusern am Englischen Kai – einer der prachtvollsten Straßen der Stadt – hatten ihre Fenster verlassen und sich ins schimmernde Nass gestürzt. Ungestört vom Wind sahen die Spiegelungen auf der Oberfläche aus, als hätte man ein zweites Sankt Petersburg in den Fluss gegossen.

      Manchmal glaubte Enrique daran – an andere Welten, erschaffen aus den Wahlmöglichkeiten, die er verworfen, den Wegen, die er nicht eingeschlagen hatte. Er starrte ins Wasser, auf das leicht verschwommene Bild des alternativen Sankt Petersburg. In dieser Parallelwelt war Tristan vielleicht noch am Leben. Vielleicht tranken sie dort Kakao und bastelten eine geschmacklose Krone aus Lametta für Séverin, während sie einen Plan ausheckten, wie sie ein Fass des Champagners für die alljährliche Silvesterfeier im L’Éden für sich abzweigen könnten. Vielleicht hätte Laila das Backen nicht aufgegeben und das Hotel röche noch immer nach süßen Köstlichkeiten und er würde sich mit Zofia um den Kuchen zanken. Vielleicht hätte Séverin dort sein rechtmäßiges Erbe nicht ausgeschlagen und vielleicht war der andere Enrique nicht nur ein Mitglied der Ilustrados, sondern Dreh- und Angelpunkt der Pariser Gesellschaft, umgeben von einer Schar staunender Bewunderer, die an seinen Lippen hingen.

      Vielleicht.

      Ganz in der Nähe kündigte das schwere Geläut der Sankt Petersburger Uhren die achte Abendstunde an. Enrique lauschte. Und da war es, weit in der Ferne, das silberhelle Läuten der Hochzeitsglocken. In zwei Stunden würde das in der Kasaner Kathedrale frisch vermählte Paar in einer Prozession aus winterlich geschmückten Kutschen diese Straße entlangkommen. Was bedeutete: Noch lagen sie im Zeitplan. Sie wurden erst um Viertel nach acht im Haus des Kunsthändlers an der Uferpromenade erwartet. Doch sie hatten noch ein gutes Stück Weg vor sich. Beim zweiten Glockenläuten erschauderte Enrique. In nur einer Stunde würden Séverin und Laila im Mariinskij-Theater ihre Falle für den Kunsthändler zuschnappen lassen, um an die Tezcat-Linse zu kommen. Gott höchstpersönlich hätte Enrique auf der Stelle ewiges Seelenheil versprechen können – nie und nimmer hätte er dort zwischen den beiden sitzen wollen. Leicht besorgt, weil dieser Gedanke vermutlich an Blasphemie grenzte, bekreuzigte er sich schnell.

      Neben ihm hatte Zofia sich seinem Schritt angepasst.

      Für diese Mission hatte sie sich als junger Mann verkleidet. Ihr flammenhelles Haar hatte sie unter einen großen Hut gestopft, die zierliche Figur wurde durch einen gepolsterten Mantel und ihre geringe Größe durch geschickt konstruierte Schuhe kaschiert. Ihr eigenes Werk, versteht sich. Aus der Manteltasche lugte ein falscher Bart. Zofia hatte erklärt, er sei viel zu kratzig, um länger getragen zu werden als unbedingt notwendig. Sie zitterte nicht. Wenn überhaupt, so schien sie in der Kälte aufzublühen, als wäre sie in ihrem natürlichen Element.

      »Weshalb siehst du mich so an?«, fragte sie.

      »Es gefällt mir, dich anzusehen.« Entsetzt darüber, wie sich das anhörte, fügte er hastig hinzu: »Ich meine, deine Maskerade ist beinahe überzeugend. Das weiß ich aus rein ästhetischen Gründen zu schätzen.«

      »Beinahe überzeugend«, wiederholte Zofia. »Was stimmt denn nicht?«

      Enrique deutete auf seinen Mund. Ihre Stimme verriet sie.

      Zofias Miene verdunkelte sich. »Ich wusste es. Das muss eine genetische Veranlagung mütterlicherseits sein.« Sie zog einen Schmollmund. »Ich dachte, die Kälte würde helfen, aber meine Lippen wirken immer etwas zu rot.«

      Enrique klappte die Kinnlade herunter.

      »Das war es doch, was du meintest, oder?«, fragte Zofia.

      »Äh … ja. Genau.«

      Nun, da sie ihre Lippen erwähnt hatte, musste er sie natürlich anschauen. Sie waren in der Tat sehr rosig. Einem Winterapfel gleich. Wie sie wohl schmeckten? Plötzlich ging ihm auf, was er da gerade dachte, und er schüttelte sich. Zofia brachte ihn durcheinander. Dieses Gefühl hatte sich schleichend eingestellt und überfiel ihn zu den unmöglichsten Zeiten. Enrique zwang seine Gedanken in andere Bahnen. Zu Hypnos. Hypnos verstand ihn. In Enrique kämpften zwei Seiten um die Vorherrschaft, und er war nie sicher, welche die Oberhand gewinnen würde, die spanische oder die philippinische. Hypnos wusste aus Erfahrung, wie es war, mit einer zwiegespaltenen Seele zu leben, als Sohn eines Kolonisators und einer Kolonisierten. Bislang war ihr Verhältnis zwanglos, was Enrique schon ganz gut gefiel, doch auf lange Sicht wollte er mehr. Er wollte jemanden, der immer zuerst nach ihm Ausschau hielt, wenn er einen Raum betrat. Jemanden, der ihn ansah, als lägen die Geheimnisse dieser Erde in seinem Antlitz verborgen, der ihn gut genug kannte, um seine Sätze zu beenden. Jemanden, mit dem er Kuchen teilen konnte.

      Hypnos könnte dieser Jemand für ihn sein.

      Ein Partner für ein erfülltes Leben. Eines, wie es auch Tristan hätte haben sollen, dachte Enrique unvermittelt. Er murmelte ein Gebet und berührte sacht die Blume an seinem Revers. Es war eine getrocknete Mondwinde, eine der letzten, die Tristan je geschmiedet hatte. Waren sie frisch, absorbierten sie das Mondlicht und konnten es hinterher über einige Stunden abgeben. Trocken war diese hier nur mehr ein Schatten ihres vormals leuchtenden Selbst.

      »Die hast du von Tristan«, stellte Zofia fest.

      Enrique ließ den Arm sinken. Er hatte sich unbeobachtet gefühlt. Als er zu ihr hinabblickte, auf ihre Hand in der Tasche, bemerkte er einen nahezu identischen Stängel zwischen ihren Fingern. Und er wusste, Tristan war bei ihnen.

      DAS HERRENHAUS MIT Blick auf den Fluss ragte vor ihnen auf wie ein überdimensionales, festlich geschmücktes Puppenhaus. Schnee hatte sich in den Lamettagirlanden an den unzähligen imposanten Säulen verfangen. Der Weg zum Eingang war gesäumt von Tannen, in denen versteckte Glöckchen bimmelten. Bonbonfarbene Mosaiken bedeckten die Kuppeln und die frostverzierten Fenster wirkten wie aus Zucker.

      »Erinnerst du dich an unsere Rollen?«, fragte Enrique.

      »Du verkörperst einen leicht ablenkbaren, exzentrischen Menschen …«

      »Einen Schriftsteller, genau«, unterbrach er Zofia.

      »Und ich bin der Fotograf.«

      »Ein sehr schweigsamer Fotograf.«

      Zofia nickte.

      »Lenk den Kammerdiener nur ein paar Minuten ab. Das sollte mir genug Zeit verschaffen, um nach Aufzeichnern Ausschau zu halten, bevor wir den Göttinnensaal betreten.«

      Er zupfte den Kragen seines leuchtend smaragdgrünen Samtsakkos zurecht, das er sich von Hypnos geliehen hatte, dann betätigte er den enormen Türklopfer in Form eines brüllenden Löwen. Offenbar war er geschmiedet, denn er verengte die Augen zu Schlitzen, täuschte ein Gähnen vor und ließ daraufhin ein kräftiges, blechernes Gebrüll hören, das die Eiszapfen vom Türrahmen schüttelte. Enrique stieß einen Schrei aus.

      Zofia blieb gelassen und hob lediglich eine Augenbraue, sobald er sich wieder gefasst hatte.

      »Was?«, fragte er.

      »Das war laut.«

      »Ja, oder? Dieser Löwe …«

      »Ich meinte dich.«

      Enrique zog eine Grimasse. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und der Kammerdiener begrüßte sie mit einem breiten Lächeln. Er hatte helle Haut, einen akkurat gestutzten schwarzen Bart und trug einen bestickten silberblauen Mantel zu bauschigen Hosen.

      »Dobryi wetscher«, sagte er herzlich. »Monsieur Wassiljew ist untröstlich, dass er Sie nicht persönlich empfangen kann, doch es freut ihn ungemein, dass man über seine Sammlung berichtet. Insbesondere, wenn es ein so geschätzter Kunstkritiker tut, wie Sie es sind.«

      Enrique