»Kann ich nicht sagen, aber schon möglich. Würden die neuen Schrittmacher fehlerhaft arbeiten, könnte es den Hergang erklären. Dagegen spricht, dass Patienten, die nicht an der Studie teilnehmen, aber mit dem gleichen Typ Schrittmacher und der gleichen Batterie versorgt wurden, wohlauf sind. Das hat der Klinikdirektor in seinem damaligen Bericht hervorgehoben, wohl um sich von dem Vorwurf zu entlasten, sie hätten für ihre Untersuchung, die eine ziemlich große Patientengruppe umfasst, unausgereifte Modelle eingesetzt. Der kommt zu dem Schluss, dass es an der besonderen Symptomatik der Probanden liege. Es seien besonders schwere Fälle, die mit diesem Block.«
»Schrittmacher, Probanden, Symptomatik, Block«, murmelte Angler etwas ungläubig, einen flüchtigen Blick in die Akte werfend.
»Symptomatik, gemeint sind Patienten mit definierten Befunden, wie zum Beispiel AV-Block, einer Herzrhythmusstörung oder einem hohen Blutdruck«, dozierte Bircher, aus den Augenwinkeln Anglers Reaktion verfolgend.
Der schob die Akte zur Seite und hob die Augenbrauen, als glaubte er sich verhört zu haben. War ihm da etwas entgangen, seit wann beschäftigte den Chef die Medizin, wurde er etwa alt und sorgte sich um die Gesundheit? Doch das erschien ihm unwahrscheinlich. War jemand krank, winkte Bircher gewöhnlich mit einem seiner Lieblingszitate ab: »Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, als fehlte bei Grippe nur die richtige Geisteshaltung. Nee, Karl ist der Kranke wurscht, an der Sache muss was anderes dran sein, beendete Angler seine Grübelei.
»Beschäftigen dich der Fall und die Symptomatik schon länger?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Dachte nur.«
»Philipp, Allgemeinbildung. Ist doch deine Stärke. Sollte dich interessieren, das Herz als Organ. Es gibt mehr zum Lesen als nur Akten oder die Berliner Zeitung.«
»Und welche Symptomatik brach unseren drei Patienten das Genick?«, versuchte Angler zu parieren.
Bircher verzog keine Miene, stattdessen erhob er sich, verschränkte die Arme auf dem Rücken und schritt langsam durch sein Arbeitszimmer, als zählte er die Schritte.
»Der Chefarzt sprach von einem ›AV-Block‹. Ich habe im medizinischen Wörterbuch nachgeschlagen. Umschreibt eine Herzrhythmusstörung. Über den AV-Block erfolgt die Kontrolle von elektrischen Impulsen, die den Herzschlag kontrollieren, und wenn die Impulse ausbleiben, kommt es zu Rhythmusstörungen. Den AV-Block kann man sich wohl wie einen Sender vorstellen, der Programmsignale ausstrahlt. Fallen die aus, dann empfängt der Fernseher keine Signale, schwarzer Bildschirm. Wenn also der Herzmuskel kein Signal erhält, weil der AV-Block defekt ist, dann hört das Herz auf zu schlagen und dem Patienten wird schwarz vor Augen. Die mit einem schwachen Block, also schwachen Sender, sind stark gefährdet. Die kriegen als Sender den Schrittmacher. Und unsere drei Patienten fallen in diese Kategorie. So etwa kann man es ausdrücken«, schloss Bircher und blieb in der Zimmermitte stehen, als prüfte er seine Erklärung.
Angler war wie zum Rapport aufgestanden und hörte mit halboffenem Mund zu. In der Regel war es Angler, der gern seine Überlegungen leicht dozierend vortrug, bis ihn Birchers Miene zum Schweigen anhielt. Das kam nicht häufig vor, dass Bircher so lange Monologe hielt, und dann auch noch über das Herz.
»Na ja, trotzdem, wenn ich die Stellungnahme des Klinikdirektors ernst nehme, und das muss man ja wohl, so ist der Schrittmacher nicht ausgefallen, und ich verstehe immer noch nicht, warum du dann deinen Urlaub opferst.«
»Ich verschiebe die Wanderung. Ist ohnehin mieses Wetter, da braucht man besonderes Schuhwerk. Zur Sache: Stell dir vor, in den nächsten Tagen würden sich weitere Patienten aus der Studiengruppe verabschieden. Was würde wohl der General befehlen, bei einem halben Dutzend Todesfälle in der Universitätsklinik der Hauptstadt, alle gestorben im Zusammenhang mit der Einführung eines neuen Herzschrittmachers aus eigener Produktion?«
»Dich zurückbeordern.«
»Eben, da bleib ich doch besser gleich hier.«
Angler sah ihn forschend an, als hörte er aus Birchers Worten eine Prognose heraus. Vielleicht hat der Chef einfach keine Lust, im Regen über den Rennsteig zu wandern, sich am Abend die Blasen zu kühlen und die Schuhe zu trocknen. Seines Wissens wurde Bircher noch nie bei einer der dienstüblichen Sportstunden gesehen, die Vorgesetzten nahmen es hin, schließlich hatte er immer alle Fälle mit dem Verstand gelöst.
»Moment mal, Karl. Du glaubst tatsächlich, dass da weitere folgen?«
»Keine Ahnung. Wir werden rauskriegen müssen, ob sich die drei Herzen von selbst verabschiedet haben.«
Angler pustete wie zum Abmarsch einmal kräftig durch. Bircher drehte eine letzte Zimmerrunde und setzte sich schließlich an seinen Schreibtisch. Angler hielt die Akte mit den drei Todesfällen unschlüssig in der Hand.
»Gib sie mir nochmal«, brummte Bircher und hob den rechten Arm. Angler legte ihm die Unterlagen in die Hand und Bircher begann zu blättern, als suchte er eine Textstelle.
»Hier«, murmelte er und drückte die Seiten auf der Schreibtischunterlage auseinander, »wird das Studienziel skizziert, auch die Beteiligten. Mir sind damals die zwei jungen Männer aufgefallen, die du auch erwähnt hast, der Biologe und der Rechentechniker von der EDV. Die sind seit Kindertagen engste Freunde, wohnen, glaube ich, wie Brüder zusammen und sind auch noch wie zufällig beide an dem Projekt beteiligt. Obwohl sie keine Ärzte sind. Hier stehen die Namen, der Biologe heißt Klaus Behrens und der Informatiker Frank Schuster. Schuster ist beim Rechenzentrum der Uni angestellt, Behrens an einem Institut der Biologie in der Nähe des Tierparks Friedrichsfelde. Denen muss der Ausflug in die Kardiologie wie ein Abenteuerurlaub vorkommen. Der Oberarzt Wohlfahrt wirkte eher wie schlafwandelnd. Jedenfalls ein interessantes Grüppchen, dass sich da zusammengefunden hat.«
Angler wunderte sich leise. Er konnte immer noch nicht den Anfangsverdacht entdecken, der sie zum Handeln veranlassen müsste. Was geht uns die kardiologische Station an? Dort sterben nun mal Menschen eines natürlichen Todes. Sollen wir alle Kliniken aufsuchen, um die Sterbefälle zu zählen?
»Ja und, Karl, in welche Richtung sollen wir ermitteln?«
»Erstmal in keine.«
»Dann kannst du ja nach Thüringen fahren.«
Bircher warf ihm einen gequälten Blick zu. Angler verstand und hob abwehrend beide Hände.
»Lass man gut sein, Philipp. Mich interessieren die Schrittmacher, mal sehen, ob die nicht doch ’ne Panne hatten oder sich die Patientenherzen ganz von allein aus der Studie verabschiedeten.«
»Und hast du einen Verdacht?«
»Nein«, murmelte Bircher. »Aber dieser in sich gekehrte Doktor, in Kooperation mit den beiden Jungs, die wie ein Zwillingspaar daherkommen. Phänotypisch, versteht sich. Die machen alles zusammen, die sollten wir nochmal befragen«, sprach er wie für sich.
ZWEI
Frank Schuster und Klaus Behrens waren tatsächlich seit so vielen Jahren engste Freunde, dass sie gelegentlich in geselliger Runde flachsten, sie wären ein eineiiges Zwillingspaar mit zwei leiblichen Müttern. So ein Wunder geschehe nur in der DDR, behaupteten sie. Tatsächlich konnten sich die zwei jungen Männer nicht daran erinnern, jemals für mehr als ein paar Tage voneinander getrennt gewesen zu sein. Ihre Freundschaft erschien ihnen so selbstverständlich wie die verrinnende Zeit. Gemeinsam verbrachten sie ihre Abende und Wochenenden, gingen zusammen zu Feten, schleppten ab und zu zwei Mädchen ab, die sie zu einem nächtlichen Fondue einluden, verliebten sich auch mal zur gleichen Zeit, um dann als Quartett um die Blöcke zu ziehen, fuhren gemeinsam in den Urlaub, besprachen ihre beruflichen Pläne und teilten miteinander alle Sorgen. Wenn einer von ihnen feststellte, dass ihm das Mädchen des anderen nicht mehr gefiel, erfolgte über kurz oder lang die Trennung von beiden. Als wäre es den Freunden die Zeit nicht wert, sich wegen eines Mädchens in Diskussionen zu verlieren. Man bekam Frank und Klaus eben nur im Doppelpack, entweder beide oder keinen.
Fragte sie jemand, ob sie Brüder wären, grinsten sie mehrdeutig und wackelten