Die Korinther. Nicole Kruska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Kruska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943362619
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gekehrt wirkte wie ihr Bruder. Vielleicht lag es an den vielen Stunden, die er in der Bibliothek verbrachte, über den Schriften der großen Philosophen brütend, oder daran, dass sein steifer Arm, den er bei einem Sturz als Vierjähriger davongetragen hatte, ihm nicht nur den Weg in den Beruf seines Vaters und Großvaters versperrt, sondern ihn auch zum Außenseiter gestempelt hatte. Sie hatte ihren älteren Bruder immer schon geliebt, nicht nur mit Mitgefühl betrachtet, sondern wirklich geliebt. Gleichzeitig konnte sie gut verstehen, warum es vielen Menschen schwerfiel, ihn zu mögen, Nikos eingeschlossen. Zusammenzuarbeiten war für beide schon immer eine Herausforderung gewesen, von Anfang an, und einzig und allein aus diesem Grund war Kynthia manchmal froh, dass Nikos inzwischen mehr Zeit in der Ziegelei verbrachte als in der Werkstatt.

      Wenig später saß Kynthia an der leise ratternden kleinen Drehscheibe unter dem Schatten spendenden Vordach des Ladens im Hof. Phaistos saß neben ihr auf einem Hocker mit einer halb mit rotem Grundanstrich bemalten Amphore auf dem Schoß und einem Pinsel in der Hand. Beide arbeiteten schon seit einer Weile schweigend vor sich hin.

      „Kynthia?“, rief eine junge, weibliche Stimme von der Straße her durch den Laden hindurch. Kynthia erkannte die Stimme sofort und zwinkerte ihrem Bruder zu.

      „Wir haben Besuch. – Komm durch in den Hof, Danaë“, rief sie dann. Aber da war das Mädchen schon fast durch den Laden hindurch und wartete nicht, bis Kynthia sich die Hände an der Schürze abgewischt hatte: Sie umarmte sie überschwänglich. Phaistos erhob sich ebenfalls und nickte seiner Verlobten mit einem unbeholfenen Lächeln zu, was diese – über das ganze Gesicht strahlend – erwiderte. Dass das Strahlen Phaistos galt, bezweifelte Kynthia allerdings.

      „Du bist doch sicher nicht allein in der Stadt?“, wollte Kynthia wissen. Das Mädchen schüttelte den Kopf.

      „Talaos kauft gegenüber einen Kuchen.“ Sie verdrehte die Augen. „Wenn ich nicht auf meinen großen Bruder aufpassen würde, wäre es um seine athletische Figur längst geschehen. – Papa ist vor der Stadtmauer beim Wagen geblieben. Wir wollen gleich nach Hause. Ich soll euch Grüße von ihnen ausrichten.“

      Danaës Strahlen ließ die tiefen Narben verblassen, die eine Kinderkrankheit in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Jetzt, am Ende des Sommers, den Danaë offensichtlich zum großen Teil draußen bei ihren geliebten Pferden auf dem Gestüt ihres Vaters Lydias verbracht hatte, waren die Narben unter der Sonnenbräune ohnehin kaum zu sehen. Auch Danaës Figur verriet, dass sie sich viel bewegte und wenig aß. Kynthia beneidete sie um ihr langes welliges Haar, das unter der locker über den Hinterkopf gelegten Palla hervorschaute und im Sonnenlicht rötlich schimmerte. Wie Kynthia selbst widmete die junge Frau ihrem Äußeren ungewöhnlich wenig Zeit. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Pferden, besonders ihrer Stute Kalypso.

      „Jetzt schon?“, wunderte sich Kynthia. Die Isthmischen Spiele, an denen Talaos mit einem Zweiergespann aus Danaës Kalypso und einer weiteren Stute als Wagenlenker antreten wollte, fanden erst im nächsten Sommer wieder statt. Nun ging gerade erst dieser Sommer zu Ende.

      „Wir sind nach Mégara gereist, um uns ein Hengstfohlen anzusehen. So ein schöner Kerl! Und – o Kynthia, Talaos wird siegen. Ich weiß es. Kalypso ist so schnell. Und so ein kluges Pferd! Und Niobē macht sich auch schon richtig gut. Sie müssen sich nur noch mehr aneinander gewöhnen. Als Nächstes gehen wir zu den Nemeischen Spielen. Und nach Delphi.“ Vor Aufregung schlug sie die Hände zusammen. „Und dann nach Olympia! Dann hat Papa endlich wieder zwei Siegerinnen zum Züchten.“

      Danaës Vater Lydias hatte seine wertvollsten Tiere vor zwei Jahren verloren, als eine Pferdeseuche die Korinthia heimgesucht hatte. An manchen Tagen war der Gestank der brennenden Pferdekadaver von den Gestüten im Umland bis in die Stadt gedrungen und hatte sich mit deren gewohnten Gerüchen vermischt: dem Rauch der Schmiedefeuer und der zahlreichen Opferstätten; dem Weihrauchduft aus den Tempeln; dem besonders an Sommertagen aufdringlichen Gestank, der aus der Kanalisation auf die Straße drang und aus den Werkstätten der Gerber und Färber; den Düften der Parfüme und Öle, die die Prostituierten ihren eigenen Ausdünstungen und denen ihrer Kunden entgegensetzten.

      In jenem Pferdeseuchensommer war auch Kalypsos Mutter, ein besonders edles Tier, verendet. Das damals dreizehnjährige Mädchen hatte sich des neugeborenen Fohlens angenommen und es ganz allein großgezogen. Vor einem Jahr hatten sie und ihr fünf Jahre älterer Bruder angefangen, mit den beiden Stuten zu trainieren. Kynthia wusste von Danaë, dass Talaos, der als Kind zu den Kleinsten seines Alters gehört hatte, immer davon geträumt hatte, als Reiter an den Spielen teilzunehmen. Aber dann war er plötzlich all seinen Altersgenossen über den Kopf gewachsen, was seinen Traum vom Rennreiter hatte zerplatzen lassen. Sofort hatte er sich daran gemacht, das Wagenlenken zu lernen. Nun waren die Geschwister fest entschlossen, im nächsten Jahr bei den Isthmischen Spielen anzutreten. Und zu siegen!

      Phaistos, der wieder auf seinem Hocker Platz genommen hatte, räusperte sich. „Olympia!“ Die beiden Frauen wandten sich ihm zu. Sein schmaler Mund breitete sich zu einem schiefen Lächeln aus. „Nun fangt doch erstmal am Isthmos an, hm?“

      Kynthia sah den Zorn in Danaës grünen Augen aufblitzen. Phaistos offenbar auch, denn er starrte ins Leere, wie immer, wenn er verlegen war, und ließ die Zunge durch den Mund wandern. Wie oft hatte Kynthia ihm schon gesagt, dass das bei seinem hageren Gesicht furchtbar albern aussah! Sie legte dem Mädchen den Arm um die Schultern.

      „Wenn ihr schon einmal in der Stadt seid, bleibt doch über Nacht und esst mit uns zu Abend.“

      Danaë, sichtlich ernüchtert, schüttelte den Kopf. „Danke, das ist sehr freundlich von dir, Kynthia. Vielleicht ein anderes Mal. Wir sind jetzt schon einige Tage unterwegs und freuen uns auf unseren heimischen Stall. Genau wie unsere Pferde.“

      „Schade“, sagte Kynthia und starrte Phaistos an, hoffte, dass er ihre stumme Aufforderung verstehen würde, das Richtige zu sagen. Er verstand und räusperte sich wieder, bevor er sprach.

      „Ähm, ja, finde ich auch, aber … ich verstehe das natürlich. Wa-wartet nicht zu lange mit eurem nächsten Besuch. Wir hatten euch schon seit Monaten nicht mehr zu Gast.“

      Danaë nickte, und Kynthia atmete auf.

      „Wir haben in Mégara ein Fohlen gekauft und werden es im Frühjahr abholen, wenn es entwöhnt ist. Vielleicht wird bei der Gelegenheit etwas daraus.“

      „Das würde uns sehr freuen“, sagte Phaistos und lächelte.

      „Ihr seid der ganzen Familie herzlich willkommen“, fügte Kynthia hinzu.

      * * *

      „Du bist wütend auf mich“, stellte Phaistos fest, als sie wieder allein in der Werkstatt waren. Kynthia drehte die Scheibe so energisch, dass sie laut ratterte.

      „Ach, Phaistos, wenn du doch nur ein Fünkchen Begeisterung aufbringen könntest. Für irgendetwas. Wie willst du es mit so einer Frau aushalten? Und wie soll sie dich ertragen? – ‚Fangt doch erstmal am Isthmos an!‘“, ahmte sie ihn spöttisch nach. „Meine Güte, Bruder …“

      „So bin ich nun einmal!“, antwortete er leise.

      „Ja, so bist du. Immer schon gewesen.“

      Sie schwiegen.

      „Weißt du, Kynthia“, sagte Phaistos nach einer Weile. Sie sah zu ihm hinüber. Die schmale Hand mit dem Pinsel im Schoß, blickte er über die Amphore auf seinem Schoß hinweg, scheinbar ins Nichts. Schaute er traurig oder nachdenklich? Kynthia hielt die Scheibe an.

      „Wenn du gezwungen bist, langsam zu sein, so wie ich, immer hinter den anderen her, dann versuchst du irgendwann nicht mehr Schritt zu halten oder andere zu überholen. Dann entdeckst du für dich die Vorzüge der Langsamkeit.“

      Kynthia erwiderte nichts. Sie senkte den Blick und arbeitete weiter. Hatte sie jemals versucht zu begreifen, wie es war, mit einem steifen Arm leben zu müssen? Als kleiner Junge war Phaistos vom Baum gefallen. Seitdem hatte er immer zugesehen, wie alle anderen Kinder tobten und rauften, und er hatte sich ihre