Die Korinther. Nicole Kruska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Kruska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943362619
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Seiten neben dem Altar stand jeweils eine Schmuckamphore, verziert mit Motiven aus der Götterwelt. Nikos hatte sie in Gaius‘ Auftrag als Hochzeitsgeschenk für dessen zweite Frau Lukrezia hergestellt. Das war jetzt ziemlich genau ein Jahr her. Gaius hatte die Amphoren selbst abgeholt und bei der Gelegenheit Nikos gefragt, ob er für ihn in der Ziegelei arbeiten wolle. Sein Onkel hatte ihm das Ziegelwerk vererbt, und auch die Ehefrau hatte Gaius vom Bruder seines Vaters übernommen: Als er schwer erkrankte, hatte der Onkel die Scheidung veranlasst. Auf diese Weise hatte er Lukrezia den Witwenstand erspart.

      Kynthia betrachtete gerade die Totenmaske in einer der beleuchteten Nischen, als sie von einer weiblichen Stimme angesprochen wurde.

      „Mein verstorbener erster Mann. Und Gaius‘ Onkel, natürlich.“

      Kynthia drehte sich um und lächelte. „Salve, Lukrezia. Danke für die Einladung.“

      Die Gastgeberin lächelte zurück und hauchte Kynthia einen Kuss auf jede Wange. Während Lukrezia sie aufklärte, von wem die Totenmasken in den drei anderen Nischen stammten, betrachtete Kynthia den feinen dunkelroten Chiton der Hausherrin. Ob er wohl ganz aus feinster Wolle bestand? Oder war da sogar Seide hineingesponnen worden? An den Schultern hielten goldene Spangen das mit Goldbesatz gesäumte Gewand so zusammen, dass es nicht verrutschen konnte. Lukrezias Halsschmuck war ebenfalls ein Blickfang: goldene Rechtecke wechselten sich mit Kugeln aus Jaspis ab, und die schweren Ohrgehänge waren passend dazu angefertigt worden. Jetzt kam sich Kynthia in ihrem mit Lederbändern befestigten Chiton aus vergleichsweise grober Wolle geradezu ärmlich vor. Auch das Armband und das Collier aus Bernstein hätte sie am liebsten versteckt.

      Lukrezia sah sie an. Hatte sie Kynthia etwas gefragt? Dann wusste sie spätestens jetzt, dass Kynthia ihr nicht einen Moment lang aufmerksam zugehört hatte. Ihr fiel nichts Klügeres ein, als die Gastgeberin nochmals freundlich anzulächeln. Vielleicht reichte das ja als Antwort. Lukrezia musste sie für völlig beschränkt halten, aber wenn dem so war, überspielte sie es gekonnt.

      „Meine Liebe! Ich sehe, neue Gäste wollen begrüßt werden. Fühl dich wie zu Hause. Ich wünsche dir einen angenehmen Abend. Lass es dir gut gehen.“

      Kynthia sah Lukrezia nach, wie sie die Stufen hinunter schwebte. Sicher friert sie jetzt am Abend in dem dünnen Ding, dachte sie. Und der tiefe Ausschnitt! Kynthia erschien es fraglich, ob eine Frau in Lukrezias Alter noch so viel Haut zeigen sollte.

      Immer noch peinlich berührt, suchte und fand Kynthia Nikos, der mitten im Atrium mit dem Hausherrn zusammenstand. Beide hielten einen Weinbecher aus Keramik in der Hand, und Gaius lächelte sie an, als er sie bemerkte.

      „Kynthia, es freut mich sehr, dass ihr beide heute Abend mitgekommen seid, du und dein Bruder. Lasst es euch allen gut gehen.“

      „Danke, Gaius, ich –“ Sie war alles andere als unglücklich darüber, dass in diesem Moment sein Blick über ihre Schulter hinweg zur Eingangshalle schweifte, wo anscheinend gerade zwei neue Gäste hereingeführt worden waren. So musste sie sich nicht anstrengen, sich etwas besonders Kluges einfallen zu lassen, was dann doch wieder nur offenbarte, dass ihre Bildung weit hinter der der anderen Gäste zurückblieb. Gaius winkte den beiden Männern zu.

      „Stephanas! Silvanus! Seid gegrüßt!“, rief er. Die beiden kamen auf sie zu. „Nikosthenes, hier ist jemand, den ich dir unbedingt vorstellen möchte.“

      Ob es angemessen war, wenn Kynthia einfach neben Nikos und den Männern stehen bliebe? Da sie Phaistos nirgends entdecken konnte und auch sonst niemanden, den sie kannte, beschloss Kynthia, genau das zu tun. Der Neuankömmling Silvanus, der in Begleitung des Baubeamten Stephanas soeben das Atrium betreten hatte, war eindeutig älter als Nikos und Phaistos, aber dennoch waren sein dichtes krauses Haar und sein Bart eher dunkel als grau. Er war Ingenieur, erklärte Stephanas, erst vor Kurzem aus Athen in Kórinthos eingetroffen und auf Arbeitssuche. Stephanas hatte ihn Gaius empfohlen und der beabsichtigte, ihn als Aufseher über seine Bauprojekte und auch über die Arbeiten in der Ziegelfabrik einzustellen. Gaius wandte sich Kynthia wieder zu.

      „Kynthia, verzeih mir, ich muss deinen Mann für eine Weile entführen. Sieh mal, da vorne hat sich dein Bruder niedergelassen. Er scheint nach dir Ausschau zu halten. Und Nikos wird sich auch bald zu euch gesellen.“

      Kynthia nahm einen Becher mit Wein von einem Tablett, das eine Sklavin ihr wortlos hinhielt, und schlenderte zu der Sitzgruppe hinüber, in der Phaistos sich niedergelassen hatte, wie gewöhnlich sitzend an die Wand gelehnt, weil sein steifer linker Arm nicht kräftig genug war, als dass er sich darauf hätte stützen können. Kynthia setzte sich neben ihn. Phaistos hielt ebenfalls einen Becher in der Hand und schien ihn eingehend zu betrachten.

      „Hoffentlich kommt der Philosoph bald“, murmelte er.

      Kynthia winkte einer Sklavin, die mit einem Tablett voller Obst in der Nähe stand, nahm eine große Traube mit prallen blauen Früchten und hielt sie Phaistos hin.

      „Lass uns den Abend genießen, Bruder!“

      Er beantwortete ihr Lächeln, indem er den Mund verzog, pflückte sich dann aber eine Traube ab und steckte sie sich in den Mund.

      Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Nikos vor ihnen stand, neben ihm Silvanus, der Kynthia und Phaistos aus seinem Bart heraus herzlich zulächelte, wobei sich die Fältchen um seine Augen zu verdoppeln schienen.

      „Da sind wir wieder!“ Nikos strahlte regelrecht, als er Silvanus die Hand auf die Schulter legte.

      „Silas, darf ich dir meine Frau vorstellen, Kynthia, und ihren Bruder Phaistos? – Ich habe Silas gebeten, sich zu uns zu setzen.“

      „Natürlich, gerne.“ Der Mann erschien Kynthia sympathisch. Und er machte ebenso wenig einen wohlhabenden Eindruck wie sie selbst. Der Abend konnte also doch noch angenehm werden.

      „Silas wird von nun an die Aufsicht über die Arbeiten in der Ziegelei führen“, erklärte Nikos, während er es sich auf der Liege neben Kynthia bequem machte. Silas nickte Phaistos einen Gruß zu, bevor er sich neben ihm niederließ.

      Von nun an, mit dem inzwischen ungewohnt gut gelaunten Nikos neben sich, genoss sie den Abend. Übermütig zupfte er sie am großen Zeh, legte den Kopf schräg und zwinkerte, als wollte er mit ihr anbandeln. Offensichtlich schmeckte ihm der Wein mindestens so gut wie ihr.

      „Ein guter Mann, dieser Silas!“, sagte er halblaut.

      Kynthia beobachtete ihn und Phaistos. Die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt, und Silas redete gestenreich, aber gerade so laut, dass Phaistos ihn verstehen konnte.

      „Woher kennt ihn Stephanas?“

      „Du wirst lachen: Stephanas hat mit unserem Freund Paulos zu tun. Sie treffen sich regelmäßig bei irgendeiner Art Versammlung. Und Silas ist Paulos‘ Freund. Er ist ihm hierher nachgereist.“

      So ein Zufall! Kynthia beschloss, ihren Bruder auf dem Heimweg zu fragen, was den Ingenieur mit Paulos verband.

      Während als Nachspeise in Honig gehülltes Gebäck serviert wurde, erhob sich Gaius, um seinem Onkel Eumelos das Wort zu erteilen. Der alte Mann mit dem weißen Haar, das zwar voller war als bei den meisten seiner Altersgenossen, aber in dünnen Strähnen über die kleinen Ohren hing, war ausgesprochen hager. Über seiner einfachen hellbraunen Wolltunika trug er eine blaue Toga, ebenfalls aus grobem Stoff. Beides wirkte sauber und ordentlich – und so schlicht, dass Kynthia angesichts der Umgebung, die bis ins kleinste Detail vom Reichtum des Gastgebers zeugte, in der Aufmachung des Alten eine philosophische Aussage vermutete. Eumelos‘ kleine Augen wurden von auffallend dichten weißen Brauen überschattet. Seine schmale hakenförmige Nase ragte zwischen hohlen Wangen und über einen breiten Mund mit schmalen Lippen hinaus, der sie mit tiefen Grübchen verband. Gaius‘ Onkel war so hässlich, dass er Kynthia leidtat. Nach einem flüchtigen Blick auf ihren stattlichen Gastgeber konnte sie nicht die geringste Familienähnlichkeit feststellen.

      Eumelos räusperte sich mehrmals, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah durch die Öffnung im Dach über dem Impluvium in den Sternenhimmel hinauf. Die Gespräche der anderen Gäste verstummten nach und nach, und erst