Die Korinther. Nicole Kruska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Kruska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943362619
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als du. An mich denken sie viel öfter, nicht nur wenn sie meinen prächtigen Tempel sehen hier mitten in der Stadt, sondern beim Anblick jedes Kunstwerks, beim Klang jeder Melodie, die in den Straßen und Häusern ertönt!“

      „Aber meinen Tempel da oben auf dem Felsen“, hatte die Göttin gestenreich geantwortet, „sieht man schon, bevor man überhaupt durch eines der Stadttore eingetreten ist. Und wer den Blick auf den Akrokórinthos richtet, wird an mich erinnert und an die Liebe. Und an nichts denken die Menschen lieber!“

      „So, das reicht für heute!“

      Nikos‘ Stimme riss Kynthia aus ihrer Erinnerung. Gemeinsam mit dem jungen Sklaven, den er sich für diesen Tag ausgeliehen hatte, hob er den vollen Korb auf den Wagen und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während der Junge ihre Schaufeln holte. Dann griff er nach dem vollen Wasserschlauch, den Kynthia mit Brunnenwasser gefüllt und für ihn mitgebracht hatte. Als Nikos seinen Durst gestillt hatte, reichte er den Schlauch an den Sklaven weiter. Kynthia stand auf und betrachtete den Wagen, dessen Räder auf beiden Seiten tief in den lehmigen Boden gesunken waren.

      „Hoffentlich hält der Karren das Gewicht aus“, murmelte sie. Nikos zuckte die Schultern und grinste breit. Kynthia war nach der Arbeit in der Töpferwerkstatt zur Tongrube hinaufgewandert, um ihren Mann nach Hause zu begleiten. Nikos war größer als die meisten anderen Männer und sein lockiges schwarzes Haar war noch ebenso so dicht wie bei ihrer Hochzeit vor neun Jahren. Die ebenmäßig schönen Züge einer Marmorstatue waren ihm nicht eigen: Die Nase war ein kleines bisschen zu groß und der volle Mund wirkte ein wenig schief. Aber wenn er, wie jetzt, gut gelaunt war, lachte das ganze Gesicht. Besonders in Momenten wie diesem fand Kynthia ihren Mann schön: wenn ihm, der sich inzwischen eher zu den Händlern zählte als zu den Handwerkern, die Freude an der körperlichen Anstrengung ins Gesicht geschrieben stand, wenn der Schweiß seine über straffe Muskeln gespannte Haut zum Glänzen brachte und die Haare sich in Stirn und Nacken kräuselten.

      Kynthia holte das Maultier, das sie sich mit zwei anderen Töpferfamilien teilten. Es döste ein paar Schritte entfernt im Schatten einer Zypressengruppe. Kynthia löste das Seil vom Baumstamm, schnalzte mit der Zunge und gab dem Tier einen Klaps auf das knochige Hinterteil. Sie führte es zum Karren, und der junge Mann spannte es ein.

      Nikos straffte die Schultern und rieb sich die Hände. „Dann wollen wir mal“, sagte er in unternehmungslustigem Ton und nickte dem Burschen zu. Beide stellten sich hinter den Wagen, beugten sich vor und schoben. Aber das Gefährt bewegte sich nicht von der Stelle. Kynthia trieb das Maultier an. Es versuchte vorwärtszugehen, aber schon nach dem ersten Schritt blieb es stehen und senkte den Kopf.

      „Nun komm, du schaffst das schon!“, murmelte Kynthia ihm in sein zuckendes Ohr. Sie griff das Führseil direkt unter dem weichen Maul und zog. Noch einmal schoben die beiden Männer mit aller Kraft von hinten an, und tatsächlich setzte sich der Zug schwerfällig in Bewegung. Mehrmals blieb das Maultier stehen und senkte unwillig den Kopf, und jedes Mal, wenn der Wagen sich mit knarzenden Rädern wieder in Gang setzte, sah Kynthia besorgt nach hinten. Nach dem fünften Mal richtete sich Nikos auf, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß aus der Stirn, schüttelte die schwarzen Locken, die stutzen zu lassen er schon seit Monaten keine Zeit mehr gefunden hatte, zwinkerte ihr aufmunternd zu und ging wieder in Position. Das Maultier ließ sich von dem kräftigen Anschub von hinten überzeugen und setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung. Kynthia wandte den Blick wieder nach vorne. Ob Nikos heute Abend sehr müde sein würde, wenn die Familie gemeinsam gegessen hätte und sie beide sich ins Schlafzimmer zurückzogen? Würde es ihr wohl gelingen, Nikos noch ein wenig wach zu halten, nachdem ihr Sohn Leander eingeschlafen war? Obwohl er es ihr schon oft gesagt hatte, fragte sich Kynthia immer wieder einmal, ob es stimmte, dass Nikos sie hübsch fand – mit ihren tief liegenden hellbraunen Augen, dem kleinen Mund, den kaum zu bändigenden krausen Haaren. Seit der Geburt ihres Sohnes Leander vor sieben Jahren fand sie sich einen Deut zu füllig, aber Nikos schien gerade das zu gefallen. Er begehrte sie, aber wenn er mit ihr schlafen wollte, fragte er sie, ob es ihr recht sei, und er bestand nicht darauf, dass sie ihm weitere Kinder schenkte, denn Leanders Geburt hatte sie nur knapp überlebt. Die Götter hatten es wirklich gut mit ihr gemeint.

      Als die Straße ebenmäßiger wurde, ließ Nikos den Sklaven allein schieben, übernahm das Führseil des Maultiers und ging neben Kynthia her.

      „Hat der Sklave gut gearbeitet?“, fragte sie.

      „Ja, ich bin sehr zufrieden.“

      Noch bevor sie sich überlegen konnte, wie sie die nächste Frage formulieren könnte, legte er ihr den freien Arm um die Schultern und raunte ihr ins Ohr:

      „Wir behalten ihn trotzdem nicht.“

      Kynthia biss sich auf die Unterlippe.

      „Nikos, bitte denk noch einmal darüber nach. Iago wird nicht mehr lange die große Drehscheibe betätigen können. Er braucht immer öfter eine Pause. Für jede Amphore brauche ich fast doppelt so lange wie früher.“

      „Es geht nicht, Kynthia. Ich bringe den Burschen gleich zurück zum Händler.“

      Diesmal fragte sie nicht, wann sie genug Geld haben würden für einen jungen, kräftigen Werkstattsklaven. Sie wusste, sie würde dieselbe Antwort bekommen wie immer: Irgendwann, bald. Vor einem Jahr hatte der Unternehmer Gaius Nikos gefragt, ob er für ihn in seiner Ziegelei arbeiten würde. Gaius war unermesslich reich und besaß alle möglichen Betriebe, aber von Ton und Ziegelherstellung verstand er nichts. Die Ziegelei hatte er geerbt. Nikos wollte nicht als Angestellter arbeiten, und Gaius hatte sich bereit erklärt, ihm Anteile zu verkaufen. Kynthia war nicht glücklich darüber gewesen, obwohl sie wusste, dass Nikos ihre Familie dadurch auf lange Sicht besser stellen wollte. Aber nun hieß es erst einmal sparen, an allen möglichen Enden, und auch ein dritter Sklave war einfach nicht erschwinglich. In letzter Zeit war die Arbeit in der Werkstatt viel mühsamer geworden, auch deshalb, weil Nikos oft in der Ziegelei war und sie und ihr Bruder Phaistos, dem Werkstatt und Laden zur Hälfte gehörten, die ganze Arbeit dort alleine erledigen mussten.

      Kynthia war erleichtert, als das Isthmische Stadttor in Sicht kam. Bis hierher war der Wagen heil geblieben.

      „Hoo, steh!“, rief Kynthia und stellte sich dem Maultier in den Weg. Eine grünbraune Halbkugel schob sich durch das Gras und verschwand zwischen den Olivenbäumen zu ihrer Linken.

      „Was ist los?“, wollte Nikos wissen.

      „Eine Schildkröte“, rief sie. „Die fange ich ein für Leander.“

      Leanders letzter Schildkröte war vor wenigen Tagen die Flucht zurück in die Hügel der Korinthia gelungen. Wo immer diese hergekommen war; ihr Weg endete an der zweiten Baumreihe.

      „Komm her, Kleiner!“

      Kynthia nahm das Tier hoch, dessen Kopf und Beine bereits in seinem Panzer verschwunden waren, und wollte gerade zur Straße zurückgehen, als sie stutzte und stehen blieb: Da lag etwas. Ein Bündel Kleider? Nein, ein Mensch! Vor einem Baum lag ein bärtiger Mann im Gras und schien zu schlafen.

      „Wo bleibst du denn?“, rief Nikos von der Straße her.

      „Komm mal her, hier liegt jemand!“

      Der Fremde richtete sich auf, fasste sich mit zitternden Händen an die Stirn und lehnte sich gegen den Baumstamm hinter ihm. Nikos trat neben Kynthia und berührte sie an der Schulter: Bleib hier stehen, sagte er damit und ging langsam auf den Mann zu. Nein, so gefährlich sah er auch wieder nicht aus. Kynthia ging hinter Nikos her.

      „Was machst du hier?“, fragte Nikos den Fremden halbwegs freundlich. Der Mann versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein Stöhnen fertig.

      „Ist er betrunken?“, fragte Kynthia.

      „Ich weiß nicht.“

      „Geh näher ran, dann kannst du es riechen.“

      Mit angewiderter Miene drehte sich Nikos zu ihr um und schüttelte den Kopf.

      „Ich bin nicht betrunken.“