»Väti – was ist denn das für ein Glas? Das ist ja aus Pappe? Schenkst du mir nachher das Glas? Das muß ich mir mal ganz genau besehen.«
»Sei nicht so laut, Pommerle. Sieh, die Mutti hat die Augen geschlossen, sie will ein wenig schlafen.«
»Bekomme ich einen Schluck von dem berühmten Bier?« bettelte Pommerle, und sah verlangend nach dem Becher.
Der Professor trank, dann reichte er seinem Töchterchen den Becher mit dem Rest. Die Kleine trank den ersten Schluck und runzelte die Stirn. Was hatte sie nur zu trinken geglaubt? Dabei war in dem Becher doch auch nur bitteres Bier.
»So'n Bier haben wir doch schon in Hirschberg getrunken, Väti. – Hier, hast du's – mach Rest. Dann aber möchte ich den Becher haben.«
Der Becher war Pommerles Entzücken.
»Wenn wir erst in der Schweiz sind, trinke ich immer aus dem Becher. Na, die Schweizer werden sich wundern! So 'nen Becher gibt es nur hier in Deutschland.«
Als man abends in Nürnberg ankam, fühlten sich die Eltern ziemlich ermüdet. Pommerle dagegen war frisch wie ein Fischlein. So bedrängte sie auch jetzt den Vater unentwegt mit Fragen.
»Erzähl mal was von Nürnberg, Väti! Das ist eine berühmte Stadt, hat unser Studienrat gesagt. In Nürnberg war mal ein Schuhmacher, der hat Gedichte gemacht und Bücher geschrieben, genau so wie du Bücher schreibst. Väti, weißt du, wie der Schuhmacher hieß?«
»Hans Sachs hieß er.«
Pommerle klatschte freudig in die Hände. »Richtig, Väti, du weißt doch alles – nur in Plauen hast du den berühmtesten Spitzenmann nicht gewußt. Na, vielleicht fällt er dir noch ein. – Väti, gehen wir heute abend noch in Nürnberg spazieren?«
»Laß endlich den armen Vater in Ruhe, Kleinchen«, mahnte Frau Bender.
»Mutti, dann sag du doch, ob es hier nicht die berühmten Würstchen gibt.«
Frau Bender warf einen hilfesuchenden Blick auf den Gatten. Sie bewunderte seine Geduld. Auch jetzt gab er wieder Antwort.
»Ja, Pommerle, im ›Bratwurschtglöckle‹.«
»Gehen wir da gleich hin?«
»Nein, wir gehen ins Hotel, essen dort Abendbrot und legen uns dann schlafen.«
»Aber das berühmte bayrische Bier brauche ich doch nicht zu trinken, Väti? Ich möchte lieber eine Himbeerlimonade mit viel Zucker.«
Im Hotel schwieg Pommerle aber doch. Voller Erstaunen betrachtete das Kind die schöne Halle, den Pförtner und den Fahrstuhl, der so rasch in die Höhe sauste, daß Pommerle ein wenig ängstlich zumute wurde. Dann säuberte man sich vom Reisestaub, und Pommerle wusch und rieb sich Gesicht und Arme, bis sie krebsrot waren.
Schließlich zeigte sich bei dem kleinen Mädchen schon während des Abendessens große Müdigkeit. Kaum konnte es erwarten, zu Bett zu gehen, und schlief fest und traumlos bis zum Morgen.
Daß der Kellner am nächsten Morgen unten im Frühstückszimmer in einem silbernen Kännchen die Milch brachte und sogar fragte, ob Pommerle Zwiebäcke haben wolle, rief bei der Kleinen größtes Erstaunen hervor.
»Darf ich selber was bestellen?«
Der Vater nickte.
»Oh«, sagte Pommerle mit Herzklopfen, »dann bringen Sie mir doch, bitte, schöne Zwiebäcke, die in durchsichtiges Papier gewickelt sind. Ich sammle das Papier und bringe es dem Jule mit.«
Eine Stunde später machte man sich auf den Weg, um die Stadt anzusehen. Man ging hinauf zu der alten Burg, sah die Wiese, auf der die alten Meistersinger in früheren Zeiten ihre Zusammenkünfte abgehalten hatten; man betrachtete die alten Häuser mit den spitzen Giebeln und die noch älteren, die unmittelbar an der Pegnitz lagen. Staunend stand das Kind vor den Gebäuden.
»Wird's immer noch schöner, Väti?«
»Morgen geht es über Augsburg und Lindau zum Bodensee. Über den See fahren wir mit dem Schiff und kommen nach der Schweiz. Wenn du auf dem Bodensee bist, siehst du in der Ferne Friedrichshafen. Nun sage du mir einmal, was für ein berühmter Mann in Friedrichshafen gelebt hat.«
»Zeppelin«, klang es prompt zurück. »Der Mann, der so lange gebastelt hat, bis er ein riesengroßes Luftschiff fertig hatte. – Oh, Väti, du kannst mich nicht 'reinlegen. Den Zeppelin haben wir doch in Hirschberg gesehen. Weißt du noch?«
»Ja, mein Kind!«
»Komisch, Väti, daß in jeder Stadt so 'n berühmter Mann wohnt. Ich freue mich zu sehr, daß Hirschberg auch einen berühmten Mann hat und daß Leute von ganz weither nach Hirschberg kommen. Wenn sie sich dann umsehen, steht da auch noch unser Riesengebirge, unser schönes, liebes Riesengebirge!«
Am nächsten Tage wurde die Reise fortgesetzt, und als man in Lindau den Dampfer bestieg, der den Namen »Wilhelm Tell« trug, saß Pommerle andächtig auf der Querbank. Jetzt ging es in die Schweiz, jetzt war man wieder an einem großen Wasser, aber es war doch nicht so wie die Ostsee. Überall sah man die Ufer. Wenn man dagegen in Neuendorf stand und geradeaus blickte, tauchte der Himmel ins Wasser. Hier war das anders.
»Väti«, klang es leise, »die Ostsee ist doch viel schöner als der Bodensee.«
»Sie ist viel größer. Aber schau! Dort drüben tauchen die Berge auf. Alles, was du links siehst, gehört schon zur Schweiz. Hier rechts ist deutsches Land. Dort im Dunst liegt Konstanz. Man kann es nicht sehen.«
»Hat es auch einen berühmten Mann?«
»Konstanz ist sogar eine sehr berühmte Stadt; dort wurden große Kirchenversammlungen abgehalten. Davon wirst du später noch mehr erfahren.«
Nach reichlich einstündiger Fahrt betrat Pommerle zum erstenmal Schweizer Boden. Das Kind war enttäuscht. Es hatte sich unter der Schweiz etwas ganz anderes vorgestellt. Jule hatte gesagt, man müsse ständig über Berge steigen und sähe nur Eis und Schnee. Hier aber war genau solch grünes Land wie in Deutschland.
Auch die Berge, die auf der Fahrt nach Zürich sichtbar wurden, lockten dem Kinde kein Erstaunen ab. Solche Berge gab es im Riesengebirge auch.
»Warte nur ab«, lächelte Bender. »Die hohen Berge wirst du später zu Gesicht bekommen.«
Dann war Zürich erreicht. Pommerle staunte über die riesengroße Stadt mit den breiten Straßen, in denen so viele elektrische Bahnen fuhren.
»Mutti, der Jule hat geschwindelt. Er sagte mir: Zürich ist so klein wie Stonsdorf, sogar noch ein bißchen kleiner. In Zürich gäbe es nur Kuhställe und Ziegen. Aber Zürich ist doch viel größer als Hirschberg. Das schreibe ich ihm.«
»Der Jule hat die Schweiz niemals gesehen, mein Kind. Er ist aus dem Hirschberger Tal noch nicht herausgekommen.«
»O doch. Mutti! Er ist mit I K 37 985 nach der Ostsee gefahren, bis nach Neuendorf. Er hat auch schon das halbe Deutschland gesehen.«
In Zürich wurde eine Rundfahrt gemacht. »Schon wieder ein See, Mutti, und morgen fahren wir wieder an einen See. Aber alle Seen zusammen sind noch lange nicht so groß wie die liebe Ostsee.«
Ehrfurchtsvoll bestaunte die Kleine das große Haus, in dem der Vater in den nächsten Tagen vor vielen Leuten seine gelehrten Vorträge halten sollte.
»Haste Angst, Väti?«
»Nein, mein Kind! Wenn man alles gut weiß, braucht man keine Angst zu haben.«
»Nu ja, du bist ja ein berühmter Mann. – Wie werden dich die Schweizer Leute ansehen! – Sage ihnen nur, daß du aus dem Riesengebirge kommst, daß du eine schöne Heimat hast, auch mit Bergen. Und wenn sich mal einer dick tut mit der Schweiz, dann erzähle ihm von der Schneekoppe! Die ist wohl schön!«
Wieder verließ man Zürich, wieder fuhr man mit der Eisenbahn. Und dann in Brunnen sah Pommerle staunend die gewaltigen Berge, die sich jäh und steil