Sid aber schlief ruhig und sorglos weiter.
Tom stöhnte lauter und meinte auf einmal wirklich Schmerz in der Zehe zu spüren.
Sid gab kein Zeichen.
Tom keuchte schon förmlich vor Anstrengung. Einen Moment sammelte er neue Kraft, hielt den Atem an und stiess dann eine ordentlich fortlaufende Tonleiter von wunderbar echtem Stöhnen aus.
Sid schnarchte weiter.
Nun wurde Tom ärgerlich. Er begann den hartnäckigen Schläfer zu rütteln und ,Sid, Sid‘ zu rufen. Das wirkte besser und nun begann das Stöhnen von neuem. Sid gähnte, streckte sich, stützte sich dann mit einem letzten Schnarcher auf seinen Ellbogen und starrte nach Tom hin. Tom stöhnte weiter. Endlich ruft Sid:
„Tom, so hör‘ doch, Tom!“
Keine Antwort.
„Du, Tom, Tom, was ist los?“ und er rüttelte ihn und starrte ihm voll Angst ins Gesicht.
Tom stöhnte:
„Ach, Sid, lass los, du tust mir weh!“
„Herr Gott, was gibts, Tom? Ich muss die Tante rufen.“
„Nein, lass sein. Es wird schon vorüber gehen. Ruf‘ niemand.“
„Doch, natürlich, das muss ich. Stöhn’ doch nicht so, Tom, das ist ja schrecklich. Wie lang tut dir’s denn schon weh?“
„Ach, Stunden lang. Autsch, autsch! Sei doch still, Sid, und lass mich in Ruhe.“
„Warum hast du mich denn nicht früher geweckt? Herr Gott, Tom, hör’ auf, es macht einen ja elend, dich so stöhnen zu hören. Wo tut dir’s denn weh?“
„Ich verzeih dir alles, Sid, was du mir je getan hast. (Stöhnen.) Alles, alles, Sid! Wenn ich tot bin —“
„O, Tom, du wirst doch nicht sterben? Sag nein, Tom, komm, sag nein. Vielleicht —“
„Ich vergebe allen Menschen, Sid. (Tiefes Stöhnen.) Sag’s allen. Und, Sid, gib du die schöne gelbe Türklinke, die ich habe und die einäugige Katze dem Mädchen, das neulich erst gekommen ist und sag ihr —“
Aber Sid hatte schon seine Kleider aufgerafft und war verschwunden. Tom litt nun in Wahrheit, so lebhaft arbeitete seine Einbildungskraft und sein Stöhnen fing an erschreckend natürlich zu klingen.
Sid flog die Treppe hinunter und rief atemlos:
„Tante Bolly, Tante Polly, komm schnell, Tom stirbt!“
„Stirbt?“
„Ja, ja, eil’ dich doch, frag’ nicht lang.“
„Dummheiten! Ich glaub’s nicht.“
Trotzdem aber stürzte sie die Treppe hinauf, so schnell sie ihre alten Beine tragen wollten und Mary hinter ihr her. Blass war auch sie geworden und ihre Lippen zitterten. Am Bett angelangt, keuchte sie nur so:
„Tom, Tom, was gibt’s, was ist los?“
„Ach, Tante, ich —“
„Was gibt’s — was ist’s, Kind, was fehlt dir?“
„Ach, Tante, ich — ich hab’ furchtbare Schmerzen da an meiner Zehe, — ich hab’ — ja ich hab’, glaub ich — den kalten Brand!“
Erleichtert aufseufzend sank jetzt die arme Tante auf einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, tat dann beides zusammen, was sie wieder soweit herstellte, dass sie Worte fand:
„Tom, Bengel, wie hast du mich erschreckt! Jetzt hör’ aber auf mit dem Unsinn und mach’, dass du aus dem Bett kommst. Es ist Zeit zum Aufstehen! Vorwärts — oder ich geb‘ dir was, um deinen kalten Brand zu wärmen!“
Das Stöhnen hörte auf und der Schmerz verschwand aus der Zehe. Kleinlaut und niedergedrückt ob des verunglückten Experiments meinte der Junge:
„Tante, wahrhaftig, ich glaubte, es müsse der kalte Brand sein, es tat so furchtbar weh, dass ich gar nicht mehr an meinen Zahn dachte.“
„An deinen Zahn? Was ist denn mit dem Bahn los?“
„Ach, der wackelt und tut gar schrecklich weh.“
„Na, na, nur nicht wieder stöhnen, ist ganz unnötig! Mund auf! Ja, der wackelt richtig, daran stirbst du aber noch lange nicht! Mary, gib mir einen Seidenfaden und hol’ ein Stück glühende Kohle aus der Küche!“
Eiligst rief Tom, der plötzlich ganz munter wurde:
„Bitte, bitte, Tantchen, zieh’ ihn mir nicht aus, er tut schon gar nicht mehr weh. Ei, ich will des Todes sein, wenn ich noch das geringste spüre! Bitte, bitte, nicht, Tantchen, ich will ja doch wahrhaftig nicht zu Hause und von der Schule wegbleiben.“
„So, du willst nicht zu Hause bleiben, mein Junge, willst durchaus nicht, was? Also deshalb all der Lärm! Wärst wohl gern aus der Schule geblieben und dafür fischen gegangen, gelt? Na, ich kenn’ dich, Tom, durch und durch, mir machst du keine Flausen vor, du Bengel! Tom, Tom, und ich hab’ dich doch so lieb und du, — du denkst nur dran, wie du deiner alten Tante das Herz brechen kannst. Geh, schäm’ dich in deine schwarze Seele hinein!“
Mittlerweile waren die zahnärztlichen Instrumente zur Stelle geschafft worden. Ein Ende des Seidenfadens befestigte die Tante mit einer Schlinge an Toms Zahn, während sie das andere um den Bettpfosten schlang, so dass der Faden straff angespannt war. Dann ergriff sie mit einer Zange die glühende Kohle und fuhr damit geschwind auf Toms Gesicht los. Ein Ruck — und der Zahn hing baumelnd am Bettpfosten.
Wie aber jede überstandene Prüfung ihren Lohn in sich trägt, so auch diese. Als sich Tom später mit der neuerworbenen Zahnlücke auf der Strasse zeigte, war er ein Gegenstand des Neides für alle Kameraden, denn keiner von ihnen war imstande, auf solch‘ neue, noch nie dagewesene Weise auszuspucken, wie es nun Tom, durch die Lücke in der Zahnreihe, tat. Er zog ein ganzes Gefolge von Bewunderern hinter sich her, die sich für die Schaustellung interessierten, und ein anderer Junge, der bis dahin, wegen eines verletzten Fingers, der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderung gewesen, sah sich plötzlich all seines Ruhmes beraubt, er musste ohne Erbarmen dem neu aufstrahlenden Gestirne weichen, und zurücktreten in den Schatten des Nichts. Sein Herz war ihm drob schwer, und eine Verachtung heuchelnd, die ihm fern lag, meinte er: das sei auch was Rechtes, so auszuspucken, wie Tom Sawyer. Da schallte ihm ein höhnendes: saure Trauben, saure Trauben! entgegen und beschämt schlich er zur Seite, ein entthronter. Held.
Auf dem Weg zur