„Bitte, Tom, sei so gut, bitte!“
So fuhr er denn brummend hinein in die schwarzen Plagegeister, blieb aber bei sehr gereizter, übler Laune. Mary war auch bald fertig und die drei Kinder machten sich zusammen auf nach der Sonntagsschule, einem Ort, den Tom ebensosehr hasste, wie ihn Sid und Mary liebten.
Die Sonntagsschule dauerte von neun bis halb elf, danach tam noch der Gottesdienst. Bei diesem blieben immer zwei unsrer kleinen Freunde freiwillig zugegen, der dritte auch, aber ihn lockte etwas anderes als die Predigt. Die Kirche selbst war klein und schmucklos, sie mochte in ihren geraden, hochlebnigen Bänken vielleicht dreihundert Menschen fassen. An der Türe zögerte Tom und liess die andern vorgehen, während er einen sonntäglich herausgeputzten Kameraden anredete:
„Sag’ mal, Bill, hast du ‘nen gelben Zettel?“
„Ja!“
„Was willst du dafür haben?“
„Was gibst du mir?“
„Ein Stück Süssholz und einen Angelhaken.“
„Zeig’ mal her.“
Tom zeigte her, Bill prüfte und fand das Gebotene des Zettels wert, so tauschten sie das Eigentum. Danach handelte Tom noch drei rote und zwei blaue Zettel gegen einige ähnliche kostbare Artikel ein. Zehn, fünfzehn Minuten lang fuhr er in dieser Beschäftigung fort, sagte allen möglichen Jungen Zettel in allen möglichen Farben ab und hatte nach Verlauf dieser Zeit eine recht stattliche Anzahl zusammen, die er schmunzelnd in die Tasche schob. Nun endlich betrat er inmitten eines Schwarms sonntäglich gesäuberter, aber etwas geräuschvoller Jungen und Mädchen die Kirche, setzte sich auf seinen Platz und begann sofort mit dem ersten besten Streit. Der Lehrer, ein ernster, gutmütig aussehender Herr, trat dazwischen, wandte dann aber für einen Moment den Rücken, was Tom sofort dazu benutzte, einem Jungen auf der vorderen Bank in die Haare zu fahren und einen anderen mit einer Nadel in den Arm zu stechen. Der Getroffene fuhr drauf mit einem zornigen ,autsch‘ herum, was ihm, da Tom mit Unschuldsmiene in sein Buch starrte, einen strengen Verweis des Lehrers zuzog. Toms ganze Klasse schien nach seinem Muster zugeschnitten — unruhig, unaufmerksam, voller Tollheiten. Als sie an’s Aufsagen kamen, wusste nicht einer seine Verse vollständig, doch stolperten sie durch mit Hängen und Würgen, so gut es eben ging. Die Belohnung für zwei fehlerlos aufgesagte Verse bestand in einem kleinen, blauen Zettel, auf den ein Bibelvers gedruckt war. Zehn blaue Zettel konnten für einen roten eingetauscht werden, zehn rote wiederum für einen gelben. Für zehn gelbe erhielt man dann vom Herrn Vikar ein kleine, sehr einfach gebundene Bibel, die unter Brüdern vielleicht vierzig Cents wert war. Wer unter meinen Lesern befässe wohl den Fleiss und die Ausdauer, zweitausend Bibelverse auswendig zu lernen und wenn man ihm eine Prachtbibel von Doré böte? Und doch hatte sich Mary zwei solcher Bibeln erobert, es war die geduldige, mühsame Arbeit zweier Jahre. Nur die älteren, vernünftigen und ernsten Schüler brachten es fertig, ihre Zettel zu sammeln und dieses langwierige und langweilige Wert so lange durchzuführen, bis sie eine Bibel erhalten konnten. Eben durch dies mühsame Erringen aber wurde die Auslieferung des hohen Preises jedesmal zu einer feierlichen, denkwürdigen Begebenheit. Der also Gefeierte erschien so gross und erhaben an einem solchen Ehrentage, dass sich beim Anblick seiner Grösse in der Brust jeglichen Zuschauers ein heiliger Eifer und Ehrgeiz entzündete, der oftmals sogar viele Wochen anhielt. Auch Toms glühendster Wunsch war es, einmal auf diese Weise ausgezeichnet zu werden; nicht der Bibel halber, bewahre, ihm ging’s um die Ehre und den Ruhm, den Glanz, der die ganze Zeremonie umstrahlte.
Nun trat der Herr Vikar, der die Sonntagsschule leitete, vor, ein kleines Testament zugeklappt in der Hand haltend, zwischen dessen Blättern sich der eine Zeigefinger barg, und bat um Aufmerksamkeit. Wenn ein Sonntagsschul-Vikar seine herkömmliche kleine Ansprache hält, so ist ihm ein Testament in der Hand so notwendig, wie das unvermeidliche Notenblatt dem Sänger, der das Podium betritt, um das Konzertpublikum mit einem Solo zu beglücken, — das Warum bleibt freilich ein Rätsel, denn weder Testament noch Notenblatt wird von dem betreffenden Dulder je eines Blicks gewürdigt werden. Dieser Herr Vikar nun war eine etwas schmächtige, überschlanke Figur von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit sandgelbem Bocksbart und sandgelben Haaren. Seine Miene war ernst und feierlich war auch der Ton seiner Stimme, als er nach dem Muster der gewöhnlichen Sonntagsschulredner begann:
„Jetzt, Kinder, passt auf; setzt euch alle so gerade und ruhig, wie ihr könnt und hört mir einmal ein paar Minuten lang recht aufmerksam zu. So, jetzt ist’s recht! So müssen’s gute, kleine Knaben und Mädchen machen! Da sehe ich noch ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausguckt. Kleine, du denkst wohl, ich sässe dort auf dem Baum und wolle den kleinen Vöglein da draussen etwas von unserm lieben Heiland erzählen, was? (Unterdrücktes Kichern.) Zuerst also möchte ich euch sagen, wie wohl es mir tut, so viele saubre, frohe kleine Gesichter an einem Ort, wie diesem, versammelt zu sehen, an dem sie lernen sollen gut und brav zu sein und das Rechte zu tun.“—
Und so weiter und so fort. Den Rest der Rede zu verzeichnen ist nicht nötig, sie hielt sich ganz an bekannte Muster, die jeder von uns schon tausendfältig gehört hat.
Das letzte Drittel der rednerischen Leistung wurde etwas gestört durch Wiederaufnahme der Püffe und Stösse und anderen Zeitvertreibs unter den schwarzen Schafen der kleinen Gemeinde. Ein Raunen und Flüstern begann, das sich mehr und mehr ausbreitete, ja selbst die Grundfesten solch unerschütterlicher Felsen wie Sid und Mary zu umspülen versuchte. Mit dem schlussandeutenden Sinken des Tons in des Redners Stimme liess auch das Summen nach und der Schluss selbst wurde mit dem Ausbruch allgemeinsten, dankbaren Schweigens begrüsst.
Ein grosser Teil der Unruhe war durch einen ebenso erstaunlichen als seltenen Zwischenfall verursacht worden — es waren Fremde gekommen! Der Bürgermeister erschien, begleitet von zwei Herren, einem alten, schwächlich aussehenden und einem jüngeren, stattlichen mit schon stark ergrauten Haaren. Voran ging eine Dame, offenbar die Frau des letzteren, die ein Mädchen an der Hand führte. Tom war bis dahin rastlos und unruhig gewesen, er hatte Gewissensbisse, und konnte Anny Lorenz nicht ansehen, deren Auge mit liebendem Blick das seine suchte. Als er nun aber die Kleine erscheinen sah, fühlte er sich wie trunken vor Wonne. Im nächsten Augenblick begann er mit Macht , sich zu zeigen’, — puffte seine Nachbarn, riss sie an den Haaren, schnitt Gesichter, kurz bediente sich aller jener Künste, die imstande sind, ein kleines Schulmädchenherz zu bezaubern und ihm Beifall abzugewinnen. Seiner Wonne wurde nur ein Dämpfer aufgesetzt durch den Gedanken an die Demütigung, welche er in jenes Engels Garten hatte erdulden müssen, aber die Erinnerung hieran war doch nur in den Sand verzeichnet, den schon jetzt die hochgehenden Wogen des Glücks, die seine Seele überfluteten, wegzuschwemmen begannen. Den Fremden wurde der beste Ehrenplatz angewiesen, und als des Vikars Rede zu Ende war, stellte sich heraus, wer sie seien. Der stattliche, ergraute Herr in mittleren Jahren, entpuppte sich als eine grosse Persönlichkeit. Er war nichts mehr und nichts weniger, als