Tom Sawyers Abenteuer und Streiche. Mark Twain. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Twain
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788726642728
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Gehst du zum Essen heim?“

      „Wenn du bleibst, bleib ich auch.“

      „Gut, das ist also abgemacht. Wie heisst du?“

      „Becky Thatcher. — Und du? — Ach, ich weiss, Thomas Sawyer.“

      „So heiss ich nur, wenn ich Schelte oder Prügel krieg’, sonst heiss ich Tom. Du rufst mich Tom, gelt?“

      „Ja.“

      Jetzt kritzelt Tom was auf die Tafel, mit der linken Hand das Geschriebene zuhaltend. Diesmal wollte sie’s gleich sehen. Tom sagte:

      „O, ’s ist nichts.“

      „Doch, doch!“

      „Nein, ’s ist nichts, es liegt dir nichts dran, ob du’s siehst.“

      „Doch, nein wirklich, bitte, lass mich sehen.“

      “Du wirst’s weiter sagen.“

      „Nein, nein, dreimal nein, gewiss und wahrhaftig nicht.“

      „Wirst du’s auch keinem Menschen sagen, so lang du lebst?“

      „Nie im Leben, niemand! Nun zeig’ aber auch.“

      „Ach, dir liegt ja doch nichts dran!“

      „Jetzt, wenn du so bist, Tom, da muss ich’s sehen —“ und sie legte ihre kleine Hand auf die seine, worauf sich ein kleiner Kampf entspann. Tom schien im Ernst widerstreben zu wollen, zog aber seine Hand allmählich doch so weit zurück, dass die Worte sichtbar wurden: „Ich liebe dich!“

      „O, du Abscheulicher!“ Und sie gab ihm einen tüchtigen Klapps auf die Hand, wurde rot und schien nicht ungehalten.

      Im selben Moment fühlte der Junge einen schicksalsschweren Griff an seinem Ohr, dazu einen unwiderstehlich nach oben ziehenden Drang, und ehe er wusste wie, befand er sich an seinem eigenen Platz, unter dem Feuer gewaltiger Lachsalven der ganzen Schule. Unerbittlich wie das Schicksal, starrte der Lehrer noch während einiger schrecklicher Momente auf ihn nieder, begab sich aber dann schliesslich feierlich zurück nach seinem Thron, ohne ein Wort zu sagen. Und obgleich Toms Ohr brannte, triumphierte sein Herz.

      Als der Sturm in der Schule sich wieder gelegt hatte, machte Tom den ersten Versuch, zu lernen, aber der Sturm in seinem Innern war zu gewaltig. Jetzt sollte er lesen, die Reihe war an ihm, er brachte aber vor Stammeln und Stottern keinen Satz zusammen; dann kam die Geographiestunde. Bei Tom wurden Seen zu Bergen, Berge zu Flüssen und Flüsse zu Inseln, bis das Chaos wieder über die Welt hereingebrochen zu sein schien. Beim Diktatschreiben, in dem er sonst einer der besten war, stolperte er über die kinderleichtesten Wörter, hatte in einem Diktat von zehn Zeilen fünfzig Fehler und musste die bleierne Verdienstmedaille, die er bis dahin für diese seine erste und einzige Kunst mit so viel Stolz getragen, ohne alle Gnade einer würdigeren Brust überliefern.

      Sechstes Kapitel

      Je eifriger Tom sich bemühte, seine Gedanken fest auf das Buch zu heften, um so rastloser schweiften sie rings in der Weite herum. So gab er es denn zuletzt mit einem Seufzer und einem Gähnen auf. Ihm schien die erlösende Mittagsstunde heute niemals schlagen zu wollen. Die Luft draussen war vollständig regungslos, nicht der kleinste Hauch belebte die Stille. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage. Das eintönige Gemurmel der fünfundzwanzig eifrig studierenden Schüler umspann die Seele mit demselben einschläfernden Zauber, der in dem Gesumm der Bienen liegt. Hoch oben am blauen Sommerhimmel schwebten zwei Vögel auf trägen Schwingen, sonst war draussen kein lebendes Wesen zu erblicken, ausser einigen Kühen, welche schliefen.

      Toms Herz sehnte sich nach Freiheit, oder doch wenigstens darnach, irgend etwas von Interesse zu haben, das ihm die schreckliche Langeweile vertreiben helfe. Mechanisch wanderte seine Hand zur Tasche und, siehe da, sein Antlitz erhellte ein Strahl dankbarer Rührung. Verstohlen kam die kleine Schachtel zum Vorschein, die Baumwanze wurde befreit und auf den langen, schmalen Schultisch gesetzt. Die unvernünftige Kreatur erglühte in diesem Augenblick wohl gleichfalls in tiefster Dankbarkeit, doch diese Wonne kam verfrüht, denn kaum hatte sie sich jubelnden Herzens marschfertig gemacht, als das grausame Schicksal, in Gestalt einer Stecknadel in Toms Hand, ihrem Laufe eine andere Richtung gab.

      Toms Busenfreund sass neben ihm, leidend, wie dieser soeben noch gelitten, und zeigte sich augenblicklich von tiefstem, dankbarstem Interesse erfüllt für die neue Unterhaltung. Dieser Busenfreund war Joe Harper. Die ganze Woche hindurch waren die beiden Jungen geschworene Freunde, der Sonnabend nur sah sie regelmässig als Gegner auf dem Schlachtfelde. Joe zog sofort eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und begann sich mit Lust und Liebe am Einexerzieren der gefangenen Wanze zu beteiligen. Von Minute zu Minute nahm die Sache an Interesse zu. Bald meinte Tom, dass sie sich gegenseitig nur hinderten und somit keiner den vollen Genuss an der Wanze haben könne. So nahm er denn Joes Tafel vor sich hin auf den Tisch und zog von oben bis unten eine Linie genau durch die Mitte derselben.

      „Jetzt,“ sagte er, „pass’ auf! So lang die Wanze auf deiner Seite ist, darfst du sie treiben mit der Nadel und ich lass’ sie in Ruhe. Brennt sie dir aber durch und kommt zu mir herüber, dann siehst du zu, so lang, bis sie mir wieder durchgeht. Hast du verstanden?“

      „Schon gut, nur vorwärts,“ trieb der ungeduldige Joe, — „kitzle sie ’mal ein bisschen!“

      Die Wanze entwischte Tom schleunigst und passierte die Linie, nun war die Reihe des ,Kitzelns‘ an Joe, gleich danach hatte sie wiederum den Äquator gekreuzt. Dieser Wechsel wiederholte sich des öfteren. Während nun der eine Junge die unglückselige Baumwanze mit der Nadel anspornte, in nimmer erlahmendem Eifer, schaute der andere in atemloser Spannung zu, die beiden Köpfe waren tief über die Tafel gebeugt, die beiden Seelen schienen der ganzen übrigen Welt wie abgestorben. Endlich wollte sich das launenhafte Glück für Joe entscheiden, an seine Fersen heften. Die Wanze versuchte auf allen möglichen Wegen zu entwischen und wurde bei der Jagd so lebhaft und erregt, wie die Jungen selber. Aber wieder und wieder, gerade als sie den Sieg schon, sozusagen, in Händen hielt und Toms Finger juckten und zappelten vor Begier, in die Aktion eingreifen zu können, gerade im entscheidenden Moment lenkte Joes Nadel geschickt den Flüchtling nach seiner Seite zurück und wahrte sich den Besitz dieses köstlichen Guts. Endlich konnte es Tom nicht länger aushalten, die Versuchung war zu gross. So streckte er denn die Hand aus und begann mit seiner Nadel nachzuhelfen. Da aber wurde Joe zornig und rief drohend:

      „Tom, lass das bleiben!“

      „Ich will dir ja nur ein klein bisschen helfen, Joe.“

      „Ach was, helfen! Brauch’ dich nicht, lass bleiben, sag’ ich.“

      „Kuckuck, noch einmal. Ich werd’ doch auch ein bisschen helfen dürfen!“

      „Lass’ bleiben, sag’ ich dir!“

      „Ich will aber nicht.“

      „Du musst — die Wanze ist auf meiner Seite.“

      “Hör’ mal zu, Joe Harper. Wem gehört die Wanze denn eigentlich, dir oder mir?“

      „Das ist mir ganz einerlei. Eben ist sie auf meiner Seite der Linie und du sollst sie nicht anrühren, oder —“

      „Na, wettst du, dass ich’s tu’? Die Wanze ist mein und ich kann mit ihr machen, was ich will — hol’ mich der und jener! Her damit, sag’ ich!“

      Ein saftiger Hieb sauste hernieder auf Toms Schultern, ein Zwillingsbruder desselben traf Joes Rücken; zwei Minuten lang waren die Jungen in eine Staubwolke gehüllt, die aus ihren Jacken aufwirbelte, zum ungeheuren Gaudium der ganzen Schule. Die beiden Sünder waren zu versunken gewesen in ihre Beschäftigung, um das verhängnisvolle Schweigen zu bemerken, das eingetreten war, als der Lehrer auf den Fussspitzen nach ihnen hinschlich und dann hinter ihnen stehen blieb. Er hatte eine hübsche Weile der seltenen Beschäftigung zugeschaut, ehe er sich erlaubte, seinen Teil zur Mehrung des Vergnügens beizutragen.

      Als die Schule dann um Mittag aus war, flog Tom auf Becky Thatcher zu und wisperte ihr ins Ohr:

      „Setz’