Tom Sawyers Abenteuer und Streiche. Mark Twain. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Twain
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788726642728
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anrufen, ihren armen Jungen wieder lebendig zu machen, den sie auch nie, nie wieder misshandeln wolle. Er aber läge da, talt und still, ein armer Märtyrer, dessen Leiden zu Ende. — So arbeitete er sich dermassen in Jammer und Elend hinein, dass er beinahe in Schluchzen ausgebrochen wäre und am Zurückdrängen desselben fast erstickte. Tränen standen in seinen Augen und alles erschien ihm in einem wässerigen Nebel. Wenn er mit den Augen zwinkerte, kamen die Tropfen langsam die Nase herab und träufelten von der Spitze hernieder. Dabei fühlte er sich so wohl in seinem Schmerz, dass er ihn ängstlich vor der profanen Lust, dem lärmenden Getriebe der Welt da draussen behütete. Als sein Bäschen Mary, die acht Tage auf dem Lande zu Besuch gewesen war, glückselig nach der ,langen Abwesenheit’ zur einen Tür herein tanzte, wie lauter Licht und Sonnenschein, entschlüpfte Tom in Nebel und Wolken gehüllt durch die andere. Weit in die Einsamkeit wanderte er hinweg. Ein Floss lockte ihn; er setzte sich darauf und starrte in die Wellen des Stromes. Wenn er nur auf einmal tot und ertrunken sein könnte, ohne etwas davon zu wissen, ohne erst all das viele Wasser zu schlucken! Dann dachte er an seine Blume, entnahm sie seinem Busen, ver welkt, zerknittert und ihr Anblick erhöhte noch sein wonniges Schmerzgefühl. Ob sie ihn wohl bemitleiden würde, wenn sie es wüsste? Oder würde auch sie sich abwenden wie die übrige schnöde Welt? Wieder verlor er sich in einem Labyrinth von Träumen und erhob sich zuletzt seufzend, um in die Dunkelheit hinein zu wandern. Um zehn, halb elf schlich er die stille Strasse hinunter, in der die vergötterte Unbekannte wohnte. An ihrer Türe hielt er an. Kein Laut traf sein lauschendes Ohr, nur aus einem Fenster des zweiten Stockes kam der trübe Schein eines einsamen Talglichts. War dort der geheiligte Raum, der sie umschloss? Er kletterte über den Zaun und stahl sich lautlos bis unter jenes Fenster. Voll Rührung schaute er hinan, dann streckte er sich der Länge lang auf den Boden aus, die Hände, welche die verwelkte Blume umschlossen, auf der Brust faltend. So wollte er sterben, — draussen in der kalten Welt, kein Dach über seinem heimatlosen Haupte, keine Freundeshand, die ihm den Todesschweiss von der Stirne wischte, kein liebendes Antlitz, das sich mitleidsvoll über ihn beugte, wenn der letzte, grosse Kampf nahte. So sollte sie ihn sehen, wenn sie das Fenster öffnete, um dem jungen Morgen zuzulächeln und ach — würde sie wohl dem Toten eine Träne weihen, einen Seufzer hauchen über den leblosen stillen Rest, der alles war, was von dem frohen, jugendfrischen, vor der Zeit in der Wurzel geknickten, jungen Leben geblieben?

      Das Fenster öffnete sich. Die schrille Stimme einer Magd entweihte die geheiligte Stille und eine Sündflut von Wasser durchtränkte die Gebeine des dahingestreckten Märtyrers.

      Prustend und keuchend sprang unser Held auf und schüttelte sich heftig. Ein Wurfgeschoss durchschwirrte die Luft, untermischt mit einem halblauten Fluche, worauf ein klirrendes Splittern von Glas folgte. Eine kleine, undeutliche Gestalt kletterte eiligst über den Zaun und schoss in die Dunkelheit hinein.

      Nicht lange danach, als Tom beim Schein eines Lichtstümpchens seine durchnässten Kleider besichtigte, erwachte Sid. Wenn der nun vorher die Absicht gehabt hatte, allerlei unliebsame Anspielungen zu machen, so besann er sich jetzt wohlweislich eines besseren und hielt Frieden, — es blitzte Gefahr in Toms Auge. Dieser aber troch ins Bett ohne weitere unangenehme Förmlichkeiten wie Waschen oder Beten, wovon sich Sid im Geiste getreulich Notiz machte, und die Stille der Nacht umfing das Brüderpaar.

      Viertes Kapitel

      Die Sonne ging auf über der sonntäglich ruhigen Welt und strahlte nieder auf das friedliche Städtchen, wie ein Segen von oben. Als das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familienandacht. Sie begann mit einem Gebete, das sich ganz und gar aus festen Schichten biblischer Kraftstellen auferbaute, die nur durch einen dünnen, spärlichen Mörtel eigener Gedanken zusammen gehalten wurden. Auf den Zinnen dieses stolzen Baues angelangt, krönte sie das Ganze mit einem dräuenden Kapitel des Mosaischen Gesetzes, als stünde sie auf dem Berge Sinai selber.

      Danach gürtete Tom seine Lenden sozusagen und ging ans Werk, sich die Bibelsprüche ,einzupauken’, Sid, der Musterknabe, hatte seine Lektion schon vor mehreren Tagen gelernt. Tom warf sich mit ganzer Energie auf die Erlernung von fünf Versen und wählte diese aus der Bergpredigt, da er keine kürzeren finden konnte.

      Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er denn auch glücklich einen schwachen, allgemeinen Begriff von seiner Lektion, aber nichts weiter, denn seine Gedanken reisten dabei mit Blitzesschnelle durch die ganze weite, unbegrenzte Welt, die im engen Hirne schlummert, und seine Finger waren rastlos tätig in allerhand angenehmen, ablenkenden Zerstreuungen. Endlich erbarmte sich Bäschen Mary seiner und nahm das Buch, um ihn zu überhören, während er sich durch den die Sprüche verhüllenden Nebel mühsam seinen Weg zu bahnen suchte.

      „Selig sind die — ä — ä — “

      „Da geistig — “

      „Richtig — die da geistig ä — ä —“

      „ Arm —“

      „Arm sind. Selig sind, die da geistig arm sind, denn sie sollen — sollen —“

      „Denn ihrer —“

      „Ja so! Selig sind, die da geistig arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie — sie —“

      „S —“

      „Denn sie — ä — “

      „S — o —“

      „Denn sie s — s —, weiss der Kuckuck, wie das heisst!“

      „Sollen!“

      „Ach so — sollen! Denn sie sollen — denn sie sollen — ä — ä — sollen Leid tragen. Selig sind, die da sollen — die da sollen — ä — Leid tragen, denn sie sollen — ä — sollen was? Warum hilfst du mir denn nicht, Mary, schäm‘ dich, so schlecht zu sein und am Sonntag noch dazu!“

      „O, Tom, armer, dummer, dickköpfiger Kerl, ich will dich ja nicht necken, Gott behüte. Ich mein’s nur gut mit dir. Geh’ und lern’s noch einmal und verlier’ den Mut nicht, du wirft’s schon in den Kopf kriegen und dann, Tom, dann schenk’ ich dir auch was Schönes! Geh’ und sei ein guter Junge!“

      „Schon recht. Aber was ist’s, Mary, sag’ mir was es ist.“

      „Das brauchst du nicht vorher zu wissen, Tom, du weisst, wenn ich sag’, es ist schön, so ist’s wirklich was Schönes.“

      „Ja, das weiss ich. Also vorwärts, gib das Buch wieder her, Mary, wollen’s schon kriegen.“

      Und er kriegte’ es wirklich und zwar mit Glanz unter dem Doppeldruck von Neugierde und voraussichtlichem Gewinn.

      Mary gab ihm nach bestandener Probe ein funkelnagelneues Taschenmesser, das mindestens 50 Cents wert war unter Brüdern. Eine feine Damaszenerklinge hatte es ja wohl nicht, auch keinen schön verzierten eingelegten Griff von Elfenbein, aber um den Tisch anzuschniten war’s gerade recht, was Tom sofort probierte, und als er sich darauf seelenvergnügt eben an den Schrank machen wollte, wurde er abgerufen, um sich zur Sonntagsschule in den Staat zu werfen.

      Mary reichte ihm eine Blechschüssel mit Wasser und ein Stück Seife, womit er sich in den Hof begab. Hier stellte er die Schüssel auf eine Bank, tauchte die Seife ins Wasser, legte solche dann zur Seite, goss das Wasser aus, stülpte die Ärmel auf und tam wieder zur Küche herein, um sich eiligst sein trockenes Gesicht am Handtuch hinter der Türe abzuwischen. Mary aber riss ihm das Tuch weg und sagte:

      „Schämst du dich nicht, Tom? Das heiss‘ ich betrügen! Wasser wird dir nichts schaden!“

      Tom war ein wenig aus der Fassung gebracht. Die Schüssel wurde wieder gefüllt und diesmal stand er eine kleine Weile davor, um sich Mut zu machen, schöpfte dann tief Atem und begann das grosse Werk der wöchentlichen Reinigung. Wie er nun zum zweitenmal die Küche betrat, sich mit trampfhaft geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen nach dem Tuche hin tastend, bewiesen Seifenschaum und Wasser, die von seinem Antlitz niederströmten, seine Ehrlichkeit glänzend. Als er dann aber hinter dem Tuche hervor tauchte, war die schwere Prozedur noch nicht zur Zufriedenheit ausgefallen. Das reine Gebiet erstreckte sich nur bis zum Rande der Kinnlade,