„Na, du redst auch, wie du’s verstehst! Sonnabend mitternacht ist doch schon Sonntag und da hat kein Teufel mehr was zu suchen hier oben. Der wird sich schwer hüten, sich am Sonntag blicken zu lassen.“
„Daran hab’ ich freilich nicht gedacht. Wahrhaftig, so ist’s. Darf ich mitgehen?“
„Meinethalben, wenn du dich nicht fürchtest.“
„Fürchten? Na, auch noch! Wirst du miauen vor unserm Haus, wenn’s Zeit ist?“
„Ja, wenn du mich nicht warten lässt. Das letztemal hab’ ich so lang miauen müssen, bis euer alter Nachbar mit Steinen nach mir warf und auf den Kater fluchte, der ihm keine leibliche Ruhe lasse. Zum Dank hab’ ich ihm ’nen Backstein durchs Fenster geschmissen, der wird an den Kater denken! Aber verrat’ du mich nicht.“
„Wo werd’ ich! Damals hab’ ich nicht kommen können, weil mir die Tante immer auf den Hacken sass. Heut’ aber komm’ ich und wenn’s Feuer und Pech regnet. — Was ist denn das Huck?“
„Ach, nur ’ne Baumwanze.“
„Woher denn?“
Aus dem Wald.“
„Was willst du dafür?“
„Ich — ich weiss nicht, ich geb’s gar nicht her.“
„Gut.’s ist auch nur ’ne ganz lumpig kleine Wanze.“
„Na, das kann jeder sagen, der keine hat. Mir ist sie gross genug, mir ist sie lang gut.“
„Pah, ist auch was Rares! Ich könnt’ tausend haben, wenn ich nur wollte.“
„Na, warum willst du nicht? Gelt, du weisst warum, Alterchen! Die Baumwanze hier ist was Seltenes, denn ’s ist noch früh für Baumwanzen. Wenigstens ist’s die erste, die ich dies Jahr sehe!“
„Hör’ du, Huck, ich geb’ dir meinen schönen Zahn dafür.“
„Zeig’ her.“
Tom zog ein Stückchen Papier hervor, das er sorgfältig aufrollte. Huck sah prüfend hinein. Die Versuchung war gross. Zuletzt fragte er:
„Ist der auch echt?“
Ohne jede weitere Beteuerung öffnete Tom den Mund, um die Lücke zu zeigen.
„Na, gut,“ meinte Huck, „also abgemacht, schlag ein!“
Tom barg die Wanze vorsichtig in einer kleinen Schachtel, die ähnlichem Gewürm schon öfter zum Gefängnis gedient hat und immer für vorkommende Fälle in Toms Tasche bereit war. Huck sackte den Zahn ein und beide Jungen trennten sich, jeder in dem erhebenden Bewusstsein, einen sehr guten Tausch gemacht zu haben.
Als Tom das kleine, einzeln gelegene Schulhaus erreichte, öffnete er hastig die Türe und eilte auf seinen Platz, als käme er eben mit grösstmöglichster Geschwindigkeit direkt von zu Hause angestürzt. Geschäftig hing er seinen Hut an den Nagel, warf die Bücher auf den Tisch, sich selbst auf die Bank und machte Miene, sich Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen. Der Lehrer, der hoch oben hinter dem Katheder auf einem hochlehnigen Rohrsessel thronte, und der bei der Stille, die das eifrige Summen der lernenden Kinder nur noch einschläfernder machte, ein klein wenig eingenickt war, erwachte von der Unterbrechung:
„Thomas Sawyer!“
Als Tom diesen seinen Namen in unverkürzter Schönheit an sein Ohr schlagen hörte, wusste er, dass es nichts Gutes bedeute.
„Herr Lehrer!“
„Komm’ einmal hierher zu mir. Warum bist du wie gewöhnlich wieder zu spät dran?“
Eben wollte Tom irgend eine kleine Notlüge zu Hilfe nehmen, als er zwei lange, blonde Schwänze gewahrte, die an einem Rücken niederbaumelten, den er sofort mit dem elektrischen Instinkt der Liebe erkannte. Und neben jenem Rücken war der einzig leere Platz, bei den Mädchen drüben. Schnell gefasst sagte er daher:
„Ich musste noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden!“
Dem Lehrer stand der Atem still, hilflos, ungewiss, starrte er den kecken Sünder an. Das Summen der Lernenden verstummte, die Kinder trauten ihren Ohren nicht ob dieser offenen Sprache, dachten, Tom müsse verrückt geworden sein. Endlich, nach atemloser Pause, fand der Lehrer Worte:
„Was — was hast du gesagt?“
„Musste noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden,“ wiederholte Tom sorglos.
Ein Missverständnis war hier nicht möglich.
„Thomas Sawyer, auf dieses ganz ausserordentlich erstaunliche Bekenntnis kann nur die Rute antworten. Jacke herunter!“
Und nun tanzte des Lehrers Rute auf Toms Rücken, bis Hand und Arm fast lahm waren und die Rute sich in Wohlgefallen auflöste. Dann folgte der Befehl:
„Jetzt gehst du und setzest dich zur Strafe zu den Mädchen! Und lass dir das als Warnung dienen! Marsch!“
Das Kichern, welches nun das Zimmer durchlief; schien den Jungen sehr verlegen zu machen, in Wahrheit war es aber nur das Bewusstsein, erreicht zu haben, wonach er gestrebt, nämlich sich seiner Gottheit nahen zu dürfen. Standhaft wie ein Märtyrer, hatte er die Prügel ertragen, die gleichsam die dunkle Pforte bildeten, durch die er nun zu seinem Paradiese eingehen sollte. Vorsichtig liess er sich ganz am äussersten Ende der Bank nieder. Mit einem verächtlichen Zurückwerfen des Kopfes rückte das Mädchen so weit als möglich von ihm weg. Das Flüstern, Köpfezusammenstecken, Kichern und das bedeutungsvolle Anstarren des armen Sünders dauerte noch eine Weile fort, Tom aber schien keine Notiz davon zu nehmen. Still sass er da, hatte die Arme über den Tisch gelegt und sah mit grosser Aufmerksamkeit in sein geöffnetes Buch. Allmählich hörte er auf, der Gegenstand der allgemeinen Beachtung und Heiterkeit zu sein, und wieder füllte das gewöhnliche Summen der Schule die sommerlich stille Luft. Jetzt begann Tom verstohlene Blicke nach seiner Göttin zu werfen. Sie bemerkte es, rümpfte das Näschen und wandte eine volle Minute lang den Kopf ab. Als sie verstohlen wieder nach ihrem Banknachbar hinblinzelte, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stiess ihn weg, Tom legte ihn sorgsam wieder vor sie; wieder stiess sie ihn fort, aber schon mit weniger Heftigkeit. Geduldig schob Tom ihn zurück, da liess sie ihn liegen. Jetzt kritzelte Tom auf seine Tafel: „Bitte behalt’ ihn — ich habe noch mehr.“ Sie las die Worte, gab aber kein Zeichen von sich, weder zustimmend noch verneinend. Jetzt begann der Junge etwas auf seine Tafel zu zeichnen, das er mit der linken Hand vor ihren Blicken barg. Eine Weile lang schien sie sich gar nicht darum zu kümmern, bald aber begann sich menschliche Neugier in ihr zu regen, die sich in allerlei kaum bemerkbaren Zeichen kund gab. Tom zeichnete weiter, anscheinend ganz in sein Werk versunken. Das Mädchen suchte auf unverfängliche Art sich einen Blick auf die Zeichnung zu verschaffen, der Junge aber verriet mit keiner Miene, dass er dies bemerkte. Endlich gab sie nach und flüsterte zögernd:
„Du, lass mich doch mal sehen!“
Tom enthüllte nun das traurige Zerrbild eines Hauses mit zwei windschiefen Giebeln, aus dessen Schornstein ein korkzieherartiges Rauchwölkchen aufschwebte. Jetzt war des Mädchens ganzes Interesse, wach, und alles darüber vergessend, folgte sie mit Eifer der Vollendung des Meisterwerks. Als es fertig war, bestaunte sie es einen Moment und flüsterte dann:
„Wundervoll — jetzt noch ’nen Mann!“
Der Künstler stellte einen Mann in den Vordergrund, lang wie ein Mastbaum; mit einem Schritt hätte er über das Haus wegsteigen können. Die Zuschauerin aber war nicht kritisch, ihr gefiel das Ungetüm und sie wisperte:
„Der Mann ist prächtig — nun mach’ mich, wie ich daher komme!“
Tom malte eine Art Achter mit einem kreisrunden Vollmond oben und vier dünnen Streifen als Arme und Beine. Die sich weit aufspreizenden Finger bedachte er mit einem ungeheuren Fächer. Das Original des Gemäldes fühlte sich geschmeichelt und meinte:
„Nein, wie nett — wenn ich