„Sieh doch, Jim, Tom sieh doch! Er geht ja wahrhaftig hin und gibt ihm die Hand! Und der schüttelt sie. Weiss Gott, ich gäb’ drei Steinkugeln drum, wenn ich der Willy wäre!“
Der Vikar begann sich nun ,zu zeigen’, rannte hierhin, dorthin, erteilte Befehl, Lob, Tadel, wie’s gerade kam und wo er nur irgend was anbringen konnte. Der Bücherausteiler ‚zeigte‘ sich in übermässigem Wichtigtun und Amtseifer, indem er mit den Armen voll Bücher hin und her rannte. Die jungen Damen, welche die verschiedenen Klassen unterrichteten, wollten gleichfalls nicht zurückbleiben, süss lächelnd neigten sie sich über kleine Schülerinnen, die sie kurz zuvor gescholten, hoben lieblich drohend Fingerlein gegen schlimme kleine Jungen und streichelten andre zärtlich und milde. Die jungen Herren, welche als Lehrer wirkten, ,zeigten‘ sich in kleinen, ernsten Strafreden, die sie ihren betreffenden Klassen hielten, und andern ähnlichen Beweisen ihrer Autorität. Dabei hatten fast alle jugendlichen Lehrer beiderlei Geschlechts ganz erstaunlich viel mit Bücherwechseln zu tun in der Nähe der Kanzel, irrten sich erstaunlich oft in dem, was sie holten, mussten wieder und wieder gehen, zwei-, dreimal und schienen sich gewaltig drüber zu ärgern. Auch die kleinen Mädchen ,zeigten sich‘ auf die verschiedenste Weise und die kleinen Jungen ,zeigten sich‘ in ihrer Art, indem sie sich heimlich schubsten und die Luft mit emporgeschleuderten Papierpfropfen erfüllten. Und über dem allen thronte majestätisch der grosse Mann, liess die Sonne seines Lächelns erstrahlen und wärmte sich an seiner eignen Grösse, denn er selbst, — er ,zeigte sich‘ erst recht. Eines nur fehlte, um des Herrn Vikars Glück vollständig zu machen in dieser erhabenen Stunde, und das war die Möglichkeit der Erteilung eines Bibelpreises. Einige Schüler konnten ein paar gelbe Zettel aufweisen, keiner aber hatte die genügende Zahl, wie er sich bei einem Umfragen unter den ersten ,Gestirnen‘ leider überzeugen musste.
Da, im letzten Moment, als er schon jede Hoffnung fahren liess, trat Tom Sawyer vor mit neun gelben, neun roten und zehn blauen Zetteln, — trat vor und verlangte eine Bibel! Das war ein Blitzschlag aus heiterem Himmel! Der Herr Vikar hatte auf ein solches Ansinnen aus dieser Himmelsrichtung jede Hoffnung aufgegeben gehabt, für die nächsten zwanzig Jahre mindestens. Aber die unglaubliche Tatsache liess sich nicht wegleugnen, — hier stand Tom und da waren die Zettel und sie stimmten auf’s Haar. Tom wurde also nach dem Ehrenplatze geleitet zu dem Kreisrichter und den andern Auserlesenen und die erstaunliche Tatsache allen kund und zu wissen getan. Das wirkte nun förmlich versteinernd, war die ausserordentlichste Begebenheit des Jahrzehnts, und so nachhaltig und tief war der erzielte Eindruck, dass er den neuen Helden noch beinahe über den alten erhob und die Schule nun zwei Wunder statt des einen zu bestaunen hatte. Die Jungen verzehrten sich in Neid, zumeist aber diejenigen, die sich nun zu spät klar machten, dass sie selbst zu diesem verhassten Ruhme beigetragen, indem sie ihre Zettel an Tom verhandelten für die Reichtümer, die er durch zeitweilige Ablassung seiner Tünchungsprivilegien aufgerafft. Sie verachteten und verdammten sich selbst als überlistete Opfer eines schwarzen Betrügers, einer kriechenden, verräterischen Schlange.
Inzwischen wurde der Preis an Tom ausgeliefert mit so viel Pomp, als der Vikar nur irgend bei der Gelegenheit anbringen konnte. Der volle richtige Schwung aber schien doch dabei zu fehlen; ihm sagte der Instinkt, dass hier ein Geheimnis verborgen liege, welches das Licht nicht vertrage, ja es scheuen müsse. Es war einfach ein Ding der Unmöglichkeit, dass dieser Junge zweitausend Körner der Schriftweisheit in die Scheunen seines Geistes eingeheimst haben sollte, dieser Junge, dessen Fähigkeiten nicht hinreichend schienen, sich auch nur ein Dutzend solch köstlicher Früchte zu eigen zu machen. Anny Lorenz war stolz und glücklich und bemühte sich, es Tom in ihren Augen lesen zu lassen, der aber wollte nicht hersehen. Sie verwunderte und grämte sich darüber; dann fasste sie Verdacht und passte auf; ein verstohlener Blick, den sie auffing, sagte ihr Welten und brach ihr armes Herz. Sie war eifersüchtig, zornig, Tränen kamen, sie hasste alle Welt, Tom aber zu allermeist, in ihrem Herzen.
Tom wurde dem Kreisrichter vorgestellt, aber die Zunge schien ihm wie gelähmt, sein Atem stockte, sein Herz klopfte zum Zerspringen, teils wegen der furchterregenden Grösse des gewaltigen Mannes, hauptsächlich aber, weil er ihr Vater war. Er wäre gerne vor ihm niedergesunken, wenn’s nur dunkel gewesen wäre. Der grosse Mann legte die Hand auf Toms Haupt, nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Burschen und fragte ihn wie er heisse. Der Junge stammelte, stotterte und stiess endlich hervor:
„Tom.“
„Nun, doch nicht nur Tom, sondern —“
„Thomas.“
„So ist’s recht, ich dachte mir wohl, es gehöre noch etwas dazu. Da hast aber doch wohl noch einen andern Namen, denke ich, und den wirst du mir doch auch sagen, nicht?“
„Nenne dem Herrn deinen vollen Namen, Thomas,“ mahnte der Vikar, „und sage auch ,mein Herr’, oder ,Herr Kreisrichter‘, du musst doch wissen was sich schickt!“
„Thomas Sawyer, — Herr Kreisrichter!“
„So, so ist’s recht, das nenn’ ich einen guten Jungen. Prächtiger Bursche! Wirklich prächtiger Kerl! Zweitausend Verse ist viel, — sehr viel! Aber, mein Kleiner, du wirst es gewiss nie bereuen, dass du dir so viel Mühe drum gegeben. Wissen ist mehr wert, als alles in der Welt, lernen und etwas wissen macht die grossen und die guten Männer im Leben. Auch du wirst wohl einmal ein guter, vielleicht ein grosser Mann, Thomas, und dann wirst du auf die Tage deiner Kindheit zurück sehen und sagen: das alles verdanke ich den unbezahlbaren Wohltaten, die ich durch die Sonntagsschule genossen, verdanke es meinen guten Lehrern, die mich zum Lernen anhielten, dem Herrn Vikar, der mich anfeuerte, mich leitete, mir die schöne Bibel schenkte, eine wundervolle, fein gebundene Bibel, die ich behalten durfte und ganz für mich allein besitzen, — alles, alles verdanke ich meiner guten, ausgezeichneten Erziehung. So wirst du sprechen, Thomas, und du liessest dir dann für kein Geld der Welt diese zweitausend Verse abkaufen, — für kein Geld der Welt, niemals! Und jetzt wirst du gewiss dieser Dame und mir etwas mitteilen, was du weisst, was du gelernt hast, nicht wahr? Denn sieh, wir sind stolz auf kleine Jungen, die etwas wissen. Ohne Zweifel kannst du uns doch die Namen der Jünger des Herrn sagen? Du kennst sie gewiss alle zwölf. Sag’ uns einmal, wer waren die zwei ersten, die ihm nachfolgten?“
Tom hatte während dessen immerzu an einem Knopf seiner Jacke herum gedreht und möglichst dumm und einfältig dazu ausgesehen. Jetzt wurde er glühend rot und bohrte die Augen beinahe in den Boden. Dem Vikar sank das Herz in die Stiefel. Er wusste, dass der Junge unmöglich die allereinfachste Frage beantworten konnte, warum auch musste der Herr Kreisrichter ihn fragen! Trotzdem fühlte er sich gedrungen, gleichsam ermunternd zu sagen:
„Antworte dem Herrn, Thomas, — fürchte dich doch nicht!“
Tom tat nichts als rot und röter werden.
„Mir wirst du’s doch sagen“, begann nun auch die Dame, „also die Namen der beiden ersten Jünger waren —“
„David und Goliath!“
Lasst uns den Schleier christlicher Barmherzigkeit über den Rest der Szene breiten. Auch was Tante Polly später zu der Bibel sagte und wie sie sich drüber freute, erwähnen wir besser nicht.
Fünftes Kapitel
Der Montagmorgen fand Tom sehr niedergeschlagen. Das war eigentlich an jedem Montagmorgen der Fall, denn damit begann ja eine neue Woche der Plage und des Leidens in der Schule. Gewöhnlich begrüsste er diesen Tag mit dem Wunsche, dass