»Ihr habt sicher noch was zu bereden«, setzte er hinzu. »Ich schau’ mal nach der Franzi.«
Sebastian fand das Madl in seiner Kammer. Franzi lag auf dem Bett und hatte verweinte Augen. Der Geistliche setzte sich zu ihr und strich ihr ganz sanft über das Gesicht.
»Ich kann versteh’n, was das Geständnis für dich bedeutet«, sagte er. »Aber was immer er getan hat, er ist und bleibt dein Großvater, der dich liebt und dich in allem was du wolltest, unterstützt hat. Schau jetzt net mit Verachtung auf ihn. Er ist auch nur ein Mensch, und Menschen machen nun einmal Fehler. Das liegt in ihrer Natur. Glaub’ mir, niemand bereut das mehr, was geschehen ist, als er, und es ist an uns, ihm zu vergeben.«
Das Madl richtete sich auf.
»So lang’ ich denken kann, ist Großvater für mich die Güte selbst«, sagte es leise. »Unsre Familie war immer eins. Wir lieben uns, und bestimmt gibt es nix, was unser Glück all die Jahre getrübt hat. Ich war sicher, daß es immer so weitergehen würde, und jetzt geschieht das!«
»Grad dann, wenn man net dran denkt, geschieht das Unerwartete«, antwortete Sebastian. »Deshalb ist es gut, wenn man mit allen Eventualitäten rechnet. Dein Großvater hat all die Jahre diese Last mit sich getragen, und gewiß hat sie ihn schwer gedrückt. Jetzt würdest du ihm helfen können, indem du zu ihm hältst und ihm einen Teil dieser Last abnimmst.«
Franzi nickte.
»Ja, Hochwürden«, antwortete sie mit fester Stimme, »das will ich tun!«
*
In den nächsten Tagen geschah erst einmal nichts. Aber das war genau das, was Sebastian Trenker beunruhigte. An dem Abend, an dem Hubert Hirschler seiner Familie alles erzählt hatte, war der Bergpfarrer noch einmal zur Pension ›Edelweiß‹ gegangen und hatte mit Franz Gruber gesprochen. Eigentlich hatte er vorgehabt, eine ruhige und vernünftige Unterhaltung mit dem Mann zu führen. Doch Gruber lehnte ein Gespräch geradewegs ab. Als Sebastian ihm schließlich sagte, daß der Hirschlerbauer unter keinen Umständen bereit war, sich in aller Öffentlichkeit zu bekennen, blickte der Norddeutsche ihn stur an und erwiderte, dann würde er geeignete Maßnahmen ergreifen und den Bauern dazu zwingen. Aber wie diese Maßnahmen aussehen würden, sagte er nicht. Immerhin war er bereit, die Frist von einer Woche verstreichen zu lassen, damit Hubert Gelegenheit hatte, seine Haltung zu überdenken.
Dem guten Hirten von St. Johann war nichts anderes übriggeblieben, als ins Pfarrhaus zurückzugehen und sich mit Geduld zu wappnen.
Mehrmals fuhr er in den darauffolgenden Tagen zum Hirschlerhof. Die Familie war sich einig, daß sie zusammenstehen und dem Großvater helfen mußte. Sebastian war glücklich, daß zumindest in dieser Hinsicht alles in Ordnung war, aber er spürte, daß die Ungewißheit über das, was Franz Gruber vorhatte, an ihren Nerven zerrte. So gut er konnte, sprach er ihnen Trost zu und versicherte, daß sie jederzeit bei ihm anrufen könnten, wenn etwas Ungewöhnliches geschehen sollte.
Max konnte auch nichts Neues berichten. Er beobachtete Franz Gruber immer wieder mal, doch der gab sich ganz wie ein Tourist. Wanderte ein wenig in der Gegend umher, den Leihwagen hatte er am Vortage zurückgegeben, oder saß im Kaffeegarten des Hotels.
Auch Andreas und Marion hatten versucht, ihren Gast in ein Gespräch zu verwickeln, doch der gab gleich zu verstehen, daß ihm daran nicht gelegen war. Und dann wurde die Spannung immer größer.
Es waren noch zwei Tage, bis das Ultimatum ablief, das Gruber dem Bauern gestellt hatte…
An diesem Donnerstagmorgen klingelte schon in aller Frühe das Telefon im Pfarrhaus. Sebastian, der stets früh aufstand, nahm den Hörer ab und hörte Marions Stimme.
»Stell dir vor, der Gruber ist ausgezogen«, sagte die Frau seines Cousins.
»Was, jetzt schon?« rief der Geistliche verwundert. »Aber hatte er net bis Samstag gebucht?«
»Allerdings«, bestätigte Marion Trenker. »Aber eben grad bin ich durch den Flur gegangen und habe gesehen, daß seine Zimmertür aufsteht. Ich habe gerufen, und als keine Antwort kam, bin ich hineingegangen. Ich weiß eigentlich gar nicht warum, aber irgendwie hatte ich so ein komisches Gefühl. Und tatsächlich, seine ganzen Sachen waren fort, und auf dem Tisch lag ein Scheck, ausgestellt auf den gesamten Mietbetrag, bis einschließlich Samstag…«
»Das ist ja eine seltsame Geschichte«, meinte Sebastian nachdenklich. »Sollte Gruber tatsächlich seinen Plan aufgegeben haben und abgereist sein?«
»So schaut’s jedenfalls aus.«
»Hm, dann müßte er eigentlich noch an der Haltestelle stehen«, überlegte der Bergpfarrer laut. »Der erste Bus in die Stadt geht erst in einer guten Stunde. Vorausgesetzt, er will tatsächlich zum Zug…«
»Möglicherweise ist er aber schon gestern abend gegangen«, warf Marion ein. »Das Bett sah jedenfalls nicht so aus, als ob er darin geschlafen hätte.«
»Gestern schon? Könnt’ natürlich sein. Ich geh’ trotzdem mal zum Hotel hinüber.«
Er bedankte sich für den Anruf und sagte seiner Haushälterin Bescheid, daß er gleich wieder zurück sein würde. Als er am Polizeirevier vorüberging, kam gerade Claudia aus der Tür. Die Journalistin war auf dem Weg zur Arbeit.
»Grüß dich, Sebastian«, sagte sie überrascht. »Wohin willst’ denn schon so früh am Morgen?«
Der Bergpfarrer erklärte es ihr. Max kam ebenfalls heraus, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Er war nicht weniger überrascht, seinen Bruder zu sehen, als die Journalistin.
»Na ja«, meinte der Polizeibeamte, »wär’ doch schön, wenn wir endlich Ruhe vor dem Burschen hätten.«
»Ich weiß net recht«, meinte Sebastian. »Irgendwie trau’ ich dem Frieden net. Mir kommt’s eher so vor wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.«
Als er das sagte, ahnte er nicht, wie recht er mit dieser Annahme haben sollte…
An der Haltestelle stand noch niemand, der auf den Bus in die Stadt wartete. Sebastian ging ein paar Schritte, um zu schauen, ob Franz Gruber sich vielleicht in der Nähe aufhielt. Auch in den Kaffeegarten und das Hotel schaute er hinein. Doch den Mann, den er suchte, konnte er nirgendwo entdecken. Eine Hotelangestellte, die er fragte, schüttelte den Kopf. Sie hatte niemanden gesehen, auf den die Beschreibung paßte.
Noch einmal wartete der Geistliche ein paar Minuten ab, dann ging er zum Pfarrhaus zurück. Er war immer noch davon überzeugt, daß Gruber sich immer noch irgendwo hier aufhielt, und Sebastian war sich sicher, daß die Sache noch längst nicht ausgestanden war.
Nach dem Frühstück fuhr er zum Hirschlerhof hinauf. Es war unumgänglich, daß er Hubert und dessen Familie über das Verschwinden Grubers unterrichtete.
Auf dem Hof mußte man sich auf alles gefaßt machen!
*
Franz Gruber schaute sich in der Hütte um. Schon vor einigen Tagen hatte er sie entdeckt und herausgefunden, daß sie einem Bauern gehörte, der sie aber kaum nutzte. Die meiste Zeit stand die Hütte leer und diente nur hin und wieder Wanderern, die auf ihrem Ausflug von einem Unwetter überrascht wurden, als Unterschlupf.
Es war ein ideales Versteck. Hoch oben im Bergwald gelegen, zwischen Tannen verborgen, stand die Hütte und war wie geschaffen für Grubers Zwecke.
Natürlich hatte er bemerkt, daß der Bruder des Geistlichen ihn beobachtete, und das hatte ihn gewaltig gestört. Als er darüber nachdachte, welche Maßnahmen er gegen Hubert Hirschler ergreifen wollte, kam ihm diese Hütte wieder in den Sinn. Gruber überlegte sich, wie er es anstellen konnte, der Überwachung durch den Polizisten zu entgehen und ersann einen Plan.
Erst einmal suchte er ein paar Sachen aus dem Kleiderschrank und legte sie beiseite. Den Rest packte er in den Koffer, den er im Schutze der Dunkelheit zu dem Leihwagen brachte. Am nächsten Tag fuhr er in die Stadt. Den Koffer gab er bei der Gepäckaufbewahrung auf und brachte das Auto zu der Verleihfirma zurück. Mit dem Bus fuhr er wieder