»Schade. Du müßtest sie eigentlich mal mit zu uns bringen. Wenn ihr mit dem Auto fahrt, kann’s doch wirklich net so schlimm für sie sein.«
»Mal sehen«, meinte der Norddeutsche ausweichend. »Vielleicht geht es ihr in den nächsten Tagen ja besser, und wir besuchen euch, kurz bevor wir wieder nach Hause fahren.«
Als Franz Gruber das sagte, drehte er den Kopf zur Seite, damit der alte Mann sein grimmiges Gesicht nicht sah. Er hatte keinesfalls die Absicht, in Kürze wieder nach Hause zu fahren. Seine Frau war auch nicht in der Pension geblieben, wie er Hubert Hirschler erzählt hatte. Lina Gruber war gar nicht nach Bayern mitgekommen, sondern daheim geblieben, in Moorkate, einem kleinen Dorf in der Nähe von Hannover. Sie mußte ja, zusammen mit ihrem Sohn Thomas, den Tischlereibetrieb weiterführen.
Der Altbauer ahnte natürlich nicht, daß er so getäuscht wurde. Auch nicht, was Franz Gruber in Wirklichkeit vorhatte.
Aber er würde es noch früh genug erfahren…
Die beiden Männer hatten den Rest des Weges zurückgelegt und standen nun auf einem schmalen Plateau. Sie blickten ins Tal hinunter und schauten fast bis nach St. Johann hinüber.
»Ist das net ein herrlicher Ausblick?« fragte Hubert.
Er war fünfundsiebzig Jahre alt, aber die sah man ihm nicht an. Auch wenn er sein Leben lang gearbeitet hatte, war er immer noch rüstig und konnte es mit einem Jüngeren durchaus aufnehmen, was die Kondition anging.
»Wunderschön«, stimmte Franz Gruber zu und nahm den Rucksack von der Schulter.
Er öffnete ihn und holte Päckchen mit belegten Broten und eine Thermoskanne heraus. Dann nahmen sie ihre Brotzeit ein, während sie ins Tal schauten.
Franz Gruber war Mitte vierzig, groß und schlank. Das Haar war dunkelbraun, und sein Gesicht machte einen sympathischen Eindruck. Vielleicht war das der Grund, warum Hubert Hirschler so schnell Vertrauen zu ihm gefaßt hatte, als sie sich das erste Mal begegneten.
Daß dies kein Zufall war, wußte nur der Norddeutsche…
Ja, Franz hatte sich alles gut überlegt. Hergekommen war er mit der Absicht, das Unrecht, das seinem Vater widerfahren war, zu rächen. Doch es hatte eine Weile gedauert, bis er den Schuldigen gefunden hatte. Der Brandnerhof, den er gesucht hatte, hieß heute Hirschlerhof. Ein zufällig mit angehörtes Gespräch, während des Tanzabends im Löwen, hatte ihn auf die Spur gebracht. Gruber war gleich am nächsten Tag hinaufgefahren und machte dabei Hubert Hirschlers Bekanntschaft. Indem er dem Alten vorgaukelte, sich für Bauernhöfe zu interessieren, erschlich er sich dessen Vertrauen. Inzwischen war er mehrere Male Gast der Familie gewesen, hatte sich auf dem Hof umgesehen und dabei seinen Plan immer weiter entwickelt.
Und heute sollte es soweit sein. Die Stunde der Abrechnung war gekommen. Hier oben waren sie ganz alleine, und niemand würde Zeuge sein, wenn er dem Widersacher seines Vaters die Anklage entgegenschleuderte.
Wie hatte er diesen Tag herbeigesehnt!
Nur schade, daß sein Vater es nicht mehr erlebte. Aber er, der Sohn, hatte sein Versprechen gehalten, den Mann zu finden, der schuld am Unglück des Josef Grubers war, und nichts und niemand würde ihn daran hindern, seine Rache bis zum letzten Moment auszukosten.
*
»Was bist’ denn so stumm?« fragte der Altbauer nach einer Weile.
Sein Wanderkamerad saß neben ihm und starrte vor sich hin. Hubert Hirschler ahnte, daß ›Georg Hinzmann‹ etwas sehr stark beschäftigte.
»Ich habe an meinen Vater gedacht«, erwiderte Franz Gruber und hob den Kopf.
»Lebt er noch oder ist er etwa schon tot?«
»Ja, er starb vor ein paar Jahren.«
»War er denn so alt oder krank?«
Gruber holte tief Luft.
»Nicht älter, als du damals warst«, antwortete er. »Nein, am Alter hat es nicht gelegen. Er starb an gebrochenem Herzen.«
»Das tut mir leid«, murmelte Hubert Hirschler. »Was war denn geschehen? Oder magst’ es mir net sagen?«
Der Jüngere trank einen Schluck Kaffee. Er hatte lange überlegt, wie er das Gespräch beginnen sollte. Und vor allem, wie es enden konnte. Mehr als einmal hatte er den Gedanken gehabt, diesen Mann neben sich umzubringen. Und hier, an diesem Platz, wäre es geradezu ein Kinderspiel. Sie waren ganz alleine auf dem Jägersteig, und wenn er den Altbauern über den Rand des Plateaus drängte, und dieser in die Tiefe stürzte, dann konnte er es immer noch als Unfall hinstellen…
Doch Franz Gruber war kein Mörder, und sein Vater würde dadurch auch nicht wieder lebendig werden. Hubert Hirschler sollte aber nicht so einfach davonkommen. Er mußte gestehen, was er damals getan hatte, und Josef Gruber in der Öffentlichkeit rehabilitieren.
»Meinem Vater wurde Unrecht zugefügt«, sagte er schließlich. »Er war noch sehr jung damals und ahnte nicht, wie infam ein Mensch sein konnte. Die ganze Geschichte spielte sich vor mehr als fünfzig Jahren ab…«
Er sah Hubert durchdringend an. Doch in dessen Gesicht zeigte sich keine Regung.
Aber wie sollte er auch? Der alte Mann stellte ja keine Verbindung zwischen ihm und Josef Gruber her.
»Mein Vater wurde ins Gefängnis gesteckt, obwohl er unschuldig war«, setzte er hinzu und beobachtete den Alten ganz genau.
War da nicht eben ein Aufblitzen in dessen Augen gewesen? Sah er jetzt zumindest die Parallele zwischen seiner Geschichte und der, die er gerade erzählt bekam?
Hubert Hirschler räusperte sich. Ihm war plötzlich sehr heiß geworden. Natürlich war ihm eingefallen, was ihm seit Jahren auf der Seele lastete…
»Wie… wie kam denn das?« fragte er mit belegter Stimme.
Franz verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln.
»Ein vermeintlicher Freund trat in dem Prozeß gegen meinen Vater als Zeuge auf«, fuhr Gruber fort. »Eigentlich ging es bei der ganzen Sache aber um etwas ganz anderes. Die beiden, Vater und sein damaliger Freund, hatten sich in ein und dieselbe Frau verliebt. Wie es aussah, schenkte die ihre Gunst aber meinem Vater. Daraufhin entwickelte der Konkurrent einen perfiden Plan. Er brach in das Haus der Frau ein und stahl Schmuck. Den versteckte er so gut, daß niemand ihn finden konnte.
Und zwar in der Kammer meines Vaters!
Dann sorgte er dafür, daß die Polizei einen Wink bekam. Sie durchsuchten die ganze Wohnung und fanden den Schmuck natürlich. Der ›Freund‹ sagte aus, mein Vater habe mehrmals erzählt, daß er der Dieb sei, und dafür wurde Josef Gruber ins Gefängnis gesteckt!«
Hubert Hirschler atmete schwer. Er war leichenblaß geworden, und auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen. Schon bei der Schilderung war ihm klar geworden, daß das eingetreten war, was er immer befürchtet hatte. Die Geschichte, die ›Georg‹ erzählte, war seine eigene, denn genauso hatte sich damals alles abgespielt.
»Du bist net der, für den du dich ausgibst!« stieß er keuchend hervor.
»Nein, der bin ich nicht«, sagte Franz Gruber ruhig und schüttelte den Kopf. »Ich bin der Sohn des Mannes, den du auf dem Gewissen hast, Hubert Hirschler!«
Der Altbauer war aufgesprungen. Er fuchtelte wild mit den Händen herum.
»Was weißt du schon davon, wie’s damals war?« rief er völlig außer sich. »Dein Vater kann dir viel erzählt haben. Er war ja schon immer ein Aufschneider.«
Gruber fuhr hoch. Drohend stand er vor dem Altbauer und sah ihn zornig an.
»Hüte dich, das Andenken meines Vaters in den Schmutz zu ziehen!« brüllte er unbeherrscht. »Ausgerechnet du solltest ganz leise sein!«
Hirschler war