Wo die Hütte lag, hatte er sich ganz genau eingeprägt. Es war eine wolkenlose Vollmondnacht, außerdem hatte er eine Taschenlampe dabei. Franz Gruber hatte kein Problem, die Hütte wiederzufinden, die für die nächste Zeit sein Zuhause sein sollte.
Nach Mitternacht kam er dort an. Grinsend baute er sich ein Bett aus den Decken, die er hier gefunden hatte. Der Geruch störte ihn nicht, als er sich niederlegte. Statt dessen war er in Gedanken bei den überraschten Gesichtern, die die Wirtsleute machen würden, wenn sie entdeckten, daß er ›abgereist‹ war…
Und vor allem Pfarrer Trenker würde dumm schauen!
Mit einem spöttischen Lächeln drehte er sich auf die Seite und schloß die Augen. Das einzige, was ihn beschäftigte, war sein Mobiltelefon. Als er aus der Pension auszog, mußte er überrascht feststellen, daß der Akku seines Handys sich offenbar entladen hatte. Gruber wollte ihn schnell noch aufladen, doch der Akku schien defekt zu sein. Immer wieder versuchte er es, blieb aber ohne Erfolg, und nun gab es vorläufig keine Gelegenheit für ihn, sich mit Lina in Verbindung zu setzen.
Indes schob Franz Gruber dieses Problem erst einmal beiseite und versuchte zu schlafen. Alles andere würde sich schon finden.
Allerdings war an Schlaf nicht zu denken, denn es war fürchterlich kalt in der Hütte. Die Decken wärmten kaum, und Gruber fror erbärmlich. Gerne hätte er einen heißen Kaffee oder Tee getrunken, aber es gab keinen elektrischen Strom, er konnte nicht einmal heißes Wasser machen.
Als der Morgen graute, hatte Gruber immer noch nicht geschlafen. Er stand auf und ging auf und ab, wobei er fröstelnd die Arme um sich schlug.
Egal, dachte er, ich gebe nicht auf!
Ihm war schon klar gewesen, daß der Hirschlerbauer seiner Forderung nicht nachkommen würde, als Pfarrer Trenker das letzte Mal bei ihm war. Und so hatte er beschlossen, sich abzusetzen und das auszuführen, was er sich für diesen Fall vorgenommen hatte. Er würde so lange gegen den Altbauern vorgehen, bis dieser endlich nachgab und öffentlich verkündete, was er getan hatte. Und gleich in der kommenden Nacht sollte es losgehen. Bis dahin wollte Gruber sich hier im Wald und in der Hütte aufhalten, damit ihn niemand zufällig entdeckte.
Sobald die Sonne aufgegangen war, wurde es wärmer. Der Norddeutsche war ein Stück durch den Wald gegangen und hatte eine Lichtung entdeckt, auf der er sich niederließ. Gerne hätte er mit seiner Frau telefoniert und sie beruhigt. Gewiß würde Lina sich Sorgen machen, wenn er in den nächsten Tagen nichts von sich hören ließ. Aber damit mußte er sich abfinden. Was er vorhatte, war wichtiger. Und wenn er erst einmal wieder zu Hause war, würde sie ihn verstehen.
Gruber fühlte sich ausgesprochen wohl. Es wurde immer wärmer, die Sonne brannte auf die Lichtung. Er hatte von seinen Vorräten gegessen, und auf dem Weg hierher entdeckte er einen Bachlauf, der am Rande des Waldes floß. Das Wasser war kristallklar und schmeckte köstlich. Er fragte sich, ob sein Vater jemals hier oben gewesen war, und ob er selbst vielleicht Plätze besucht hatte, die Josef Gruber in seiner Jugend gekannt hatte.
Bevor es wieder dunkel wurde, kehrte er zur Hütte zurück. Dort war alles wie vorher, nichts deutete darauf hin, daß jemand in seiner Abwesenheit hier gewesen war.
Gruber wartete noch ein paar Stunden ab, dann machte er sich auf den Weg. Sein Ziel lag einige Kilometer unter ihm.
Es war der Hirschlerhof!
*
Thomas Gruber blickte seine Mutter besorgt an. Sie saß am Küchentisch und beugte sich über einen Stoß Rechnungen, die sie durchging. Normalerweise hätte sie diese Arbeit drüben im Büro verrichtet. Aber heute hatte sie die Unterlagen, nach Feierabend in der Werkstatt, mit in die Wohnung genommen.
Lina sah auf. Thomas ahnte, was ihn ihr vorging.
»Hat er sich immer noch nicht gemeldet?«
Seine Mutter schüttelte den Kopf.
»Ich werde noch verrückt«, murmelte sie und deutete auf das schnurlose Telefon, das neben ihr auf dem Tisch lag. »Den ganzen Tag versuche ich schon, deinen Vater zu erreichen. Aber ich höre immer nur die Ansage, daß der Teilnehmer zur Zeit nicht erreichbar ist. Ich möchte nur wissen, was da los ist!«
»Vielleicht hat Vater nur vergessen, sein Handy einzuschalten«, meinte der junge Tischlergeselle. »Hast du es mal in der Pension versucht?«
Lina schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
»Natürlich«, rief sie kopfschüttelnd. »Daran hätte ich auch selbst denken können!«
Thomas schmunzelte, während er zum Herd ging. Darauf stand eine Pfanne mit Bratkartoffeln. Die Hitze war auf die unterste Stufe geschaltet, so daß die Kartoffeln nur noch warmgehalten wurden, aber nicht mehr brieten. Auf der Anrichte daneben stand ein Teller mit Sauerfleisch darauf. Seine Mutter machte es selbst, und es gehörte zu Thomas’ Lieblingsspeisen.
Während er sich Kartoffeln auffüllte, wählte Lina die Nummer der Pension ›Edelweiß‹ in St. Johann. Der Sohn nahm noch eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich zu ihr.
»Guten Abend«, hörte er seine Mutter sagen, »Gruber hier. Mein Mann, Franz Gruber, wohnt bei Ihnen. Ich versuche schon den ganzen Tag ihn zu erreichen, aber sein Handy scheint nicht zu funktionieren, oder er hat vergessen, es einzuschalten. Könnten Sie vielleicht mal nachsehen, ob er auf seinem Zimmer ist?«
Thomas aß mit Genuß. Die Bratkartoffeln waren mit Speck und Zwiebeln gemacht und schmeckten köstlich.
»Was?« rief seine Mutter plötzlich. »Aber… das kann doch gar nicht sein!«
Der Sohn ließ sein Besteck sinken und sah sie fragend an.
»Wie bitte…? Ach so, ja… ja, dann vielen Dank.«
Lina Gruber legte das Telefon auf den Tisch und sah Thomas seltsam an.
»Was ist denn los?« wollte er wissen.
Sie zuckte die Schultern.
»Ich verstehe das überhaupt nicht«, antwortete seine Mutter. »Die Frau in der Pension hat gesagt, Vater wäre heute morgen nicht in seinem Zimmer gewesen. All seine Sachen seien fort, und er habe einen Scheck dagelassen, für die Miete. Sie vermutet, daß er abgereist ist.«
Ihr Sohn machte ein verwundertes Gesicht.
»Seltsam«, meinte er. »Warum meldet er sich dann nicht? Wenn er tatsächlich auf dem Weg hierher ist, dann muß ich doch nach Hannover, ihn von der Bahn abholen.«
Lina Gruber machte ein besorgtes Gesicht.
»Irgend etwas stimmt da nicht«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Es klang so merkwürdig, als die Frau das sagte. Sie war nicht sicher, ob Vater heute morgen erst ausgezogen ist, oder nicht schon gestern abend…«
Thomas runzelte die Stirn.
»Gestern abend? Aber dann müßte er doch längst hier sein, wenn er den Nachtzug genommen hat…«
Seine Mutter nickte.
»Das stimmt. Er müßte längst hier sein!«
Sie sah ihren Sohn ganz angstvoll an.
»Wenn ihm was passiert ist…«
Hastig griff Franz Grubers Frau zum Telefon.
»Was hast du vor?« fragte Thomas.
»Ich rufe die Polizei an.«
»Und was willst du denen sagen? Daß dein Mann mit dem Zug unterwegs war und nicht angekommen ist?«
Er schüttelte den Kopf und nahm ihr das Telefon aus der Hand.
»Mutter, so geht das nicht. Du mußt der Polizei doch genau erklären, was eigentlich los