»Er hat ja kaum etwas gegessen«, setzte sie hinzu. »Ist er vielleicht krank?«
Ihre Mutter zuckte die Schultern.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Heut’ morgen war er noch ganz gesund, als er mit dem Georg losgezogen ist.«
Franzi schaute nachdenklich zur Tür, durch die ihr Großvater vor wenigen Augenblicken gegangen war. Sie führte in den Anbau, den Hubert Hirschler bewohnte.
»Ob ich mal besser nach ihm schau?« überlegte sie laut.
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf.
»Laß das Geschirr ruhig stehen, Mutter«, sagte sie. »Ich räum’ nachher ab.«
Franzi war ein hübsches, achtzehnjähriges Madl mit dunklem Haar, das sie manchmal zu Zöpfen flocht. Sie besuchte in der Stadt das Gymnasium und wollte nach dem Abitur, zur Überraschung ihrer Eltern, Architektur studieren, anstatt den Hof einmal zu übernehmen, wie es eigentlich üblich gewesen wäre.
Als sie damals diesen Wunsch geäußert hatte, war sie darauf gefaßt gewesen, auf Widerstand zu stoßen. Immerhin ging es um nicht mehr und nicht weniger, als daß der Hof verkauft werden würde, wenn die Eltern einmal nicht mehr lebten. Indes hatte Franzi Unterstützung von seiten des Großvaters erhalten, der sie in ihrem Vorhaben unterstützte. Er liebte seine Enkelin über alles, was vielleicht vor allem daran lag, daß Franzi ihrer verstorbenen Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Zaghaft klopfte sie an die Tür zu seiner Wohnstube. Franzi wußte, daß der Großvater sich nach dem Essen gerne für eine halbes Stündchen aufs Sofa legte und einen Mittagsschlaf hielt. Als sie keine Antwort erhielt, drückte sie vorsichtig die Klinke herunter und spähte durch die Türöffnung.
»Schläfst du?« flüsterte sie.
Hubert Hirschler lag ausgestreckt auf dem Sofa. Er hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. Franzi ging näher, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Dann nahm sie seine Hand und hielte sie fest.
»Was ist mit dir?« fragte sie besorgt. »Du wirst doch wohl etwa net krank?«
Er sah sie an und schüttelte den Kopf.
»Bloß ein bissel müd’«, murmelte der Großvater. »Mach’ dir keine Sorgen.«
»Das tu’ ich aber«, beharrte die Enkelin. »Gegessen hast’ auch nix!«
Hubert versuchte zu lächeln.
»Manchmal hat man halt keinen Appetit.«
Er strich ihr über das Haar.
»Laß mich noch ein bissel liegen«, sagte er. »Ich denk’ grad an deine Großmutter.«
Franzi gab ihm einen Kuß.
»Ich vermisse sie auch«, antwortete sie und ging wieder hinaus.
Der Altbauer seufzte tief auf. Er hatte immer geahnt, daß das Kapitel Josef Gruber noch nicht abgeschlossen war, auch wenn er es all die Jahre verdrängt hatte. Einmal mußte es ja so kommen, dessen war er sicher gewesen. Irgendwann würde ihm die Rechnung für das, was er getan hatte, präsentiert werden.
Und nun war der gefürchtete Tag gekommen!
Verzweifelt war er auf den Hof zurückgekehrt. Was Franz Gruber da von ihm forderte, konnte er unmöglich erfüllen.
Wie stand er dann da?
Vor der Familie, den Nachbarn und Freunden!
Und vor allem vor Franzi…
Die ganze Zeit schon sann er über einen Ausweg nach. Aber es wollte ihm nichts einfallen.
Ob man mit Geld die Sache aus der Welt schaffen konnte?
Gewiß, Reichtümer hatte er nie anhäufen können, aber es war ihm all die Jahre auch nicht so schlecht ergangen, daß er nicht etwas hätte zurücklegen können. Vielleicht half es ja, wenn er dem Sohn seines früheren Freundes seine ganzen Ersparnisse anbot. Dann mußte der doch eigentlich Ruhe geben und wieder abreisen.
Mit langsamen Bewegungen richtete sich Hubert Hirschler auf und ging zum Wohnzimmerschrank hinüber. Er öffnete die rechte Tür und zog einen Schlüssel aus der Tasche hervor. Er war klein und aus Messing. Damit schloß der Altbauer eine Schublade auf, in der er persönliche Dinge aufbewahrte. Neben seinem Sparbuch, Papieren und Dokumenten lag ganz zu unters ein kleines Kästchen aus rotbraunem Leder. Hubert nahm es heraus und ging damit zum Sofa zurück. Schwer atmend ließ er sich nieder und öffnete das Kästchen. Zwischen zwei Wattestückchen gebettet befand sich eine Kette mit einem kunstvoll gearbeiteten Anhänger.
Der Name ›Josefa‹ war darauf eingraviert.
Josefa, das war Marias Mutter gewesen. Sie hatte den Anhänger von ihrem späteren Mann zur Verlobung geschenkt bekommen, und dieser Schmuck war der Gegenstand, um den sich alles drehte.
Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als er ihn gestohlen und den Verdacht auf den Freund und Rivalen gelenkt hatte. Und während der alte Mann ihn anschaute und sich erinnerte, rannen ihm die Tränen über das faltige Gesicht.
*
Franz Gruber saß in seinem Pensionszimmer. Er hatte eben mit seiner Frau telefoniert und ihr davon erzählt, was sich auf dem Jägersteig abgespielt hatte.
Lina hatte nicht gewußt, ob sie erleichtert sein konnte. Auch wenn Franz endlich Erfolg gehabt hatte, hieß das noch lange nicht, daß er auch schon bald wieder nach Hause kommen würde. Als sie diesbezüglich eine vage Andeutung machte, hatte ihr Mann ihr gleich jede Hoffnung genommen.
»Nicht bevor die Sache ausgestanden ist«, sagte er. »Jetzt habe ich den Kerl endlich soweit, und er wird klein beigeben!«
»Aber wir brauchen dich hier«, wagte Lina Gruber zu sagen. »Thomas und Horst schaffen es nicht mehr alleine.«
»Es wird nicht mehr lange dauern«, tröstete Franz seine Frau. »Spätestens nächste Woche bin ich zu Hause.«
Mit einem unbeschreiblichen Gefühl dachte er jetzt noch einmal an den Moment, in dem er Hubert Hirschler mit seiner Anklage konfrontiert hatte. Der Mann hatte nichts abgestritten, und jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis er in aller Öffentlichkeit bekannte, was er damals getan hatte.
»Und wenn er es nicht tut, dann sorge ich dafür, daß es publik wird!« murmelte Franz Gruber mit grimmiger Miene.
Es klopfte an der Tür, und er ging hin und öffnete. Seine Miene verfinsterte sich, als er den Geistlichen sah.
»Grüß Gott, Herr Gruber«, sagte Sebastian freundlich, den abweisenden Gesichtsausdruck ignorierend. »Darf ich einen Moment hereinkommen?«
»Wenn es sein muß«, brummte der Norddeutsche und trat zur Seite.
»Vielen Dank.«
Der Bergpfarrer setzte sich auf einen Stuhl. Gruber nahm ihm gegenüber Platz.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er, immer noch mit abweisendem Blick.
»Erst einmal vielen Dank, daß Sie mir einen Augenblick Ihrer Zeit schenken, Herr Gruber«, sagte Sebastian. »Oder soll ich Herr Hinzmann sagen?«
Bei diesen Worten beobachtete er sein Gegenüber genau, doch in dessen Gesicht zeigte sich keine Regung.
»So nennen Sie sich doch, net wahr?« fuhr der Geistliche fort. »Georg Hinzmann, dessen arme, kranke Frau keinen Ausflug mitmachen kann, weil der Föhn ihr zusetzt…«
Endlich schürzte Franz Gruber die Lippen und bedachte den Besucher mit einem abschätzenden Blick.
»Was wollen Sie?« fragte er, kurz angebunden.
»Das ist net die Frage«, schüttelte Sebastian den Kopf. »Sondern vielmehr, was wollen Sie?«
»Das ist meine Privatsache und geht Sie nichts an!«
Der gute