Der unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln.
»Gruber ist mein Name. Franz Gruber«, erklärte er. »Georg Hinzmann habe ich mich nur genannt, weil ich nicht wollte, daß du schon vorher darauf kommst, wer ich wirklich bin.«
Er sah die Angst in den Augen des alten Mannes und schüttelte erneut den Kopf.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten«, sagte er. »Ich habe nicht die Absicht, dir etwas anzutun, obwohl ich dich in Gedanken schon tausendmal umgebracht habe. Aber das wäre zu wenig an Strafe für dich.«
Hubert sah ihn unsicher an.
»Was… was willst’ dann von mir?« fragte er.
»Ich will, daß du öffentlich bekennst, daß du dieses Medaillon damals gestohlen hast!« forderte Gruber.
»Unmöglich!« rief der Altbauer.
Sein Gegenüber lächelte wieder spöttisch.
»Ich weiß«, nickte er. »Ich habe dich und deine Familie kennengelernt. Dein Sohn und deine Schwiegertochter halten große Stücke auf dich, Hubert. Deine Enkelin, die Franzi, liebt dich abgöttisch, und überall im Tal bist du ein angesehener und geschätzter Mann; ein guter Freund und Nachbar.
Was glaubst du, werden die Leute von dir halten, wenn die Wahrheit ans Licht kommt? Werden sie sagen, man sollte die alte Geschichte ruhen lassen? Was will der Sohn vom Gruber denn noch, nach so langer Zeit?
Nein, Hubert Hirschler, mit den Fingern werden sie auf dich zeigen. Auf den Mann, der einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht hat, der seinem angeblich besten Freund alles nahm, wovon er geträumt hatte. Nicht du säßest heute auf dem Hof, den Maria Brandner geerbt hatte, sondern mein Vater. Gruberhof würde er jetzt heißen, und ich wäre Bauer geworden und nicht Tischler. Du hast das alles durch deine falschen Anschuldigungen zunichte gemacht. Du bist schuld, daß mein Vater viele Jahre seines Lebens in Armut und Elend verbringen mußte. Du hast ihn auf dem Gewissen, Hubert Hirschler!«
Die letzten Worte hatte Franz Gruber förmlich herausgeschrien. Jetzt stand er vor dem Altbauer und rang nach Luft. Der alte Mann war erstarrt, er suchte nach Worten, die sein damaliges Verhalten entschuldigen sollten. Doch Gruber ahnte es und schüttelte den Kopf.
»Spar dir deine Erklärungen«, sagte er hart. »Ich gebe dir eine Woche Zeit, um die Sache von damals richtigzustellen, um den Leuten zu sagen, was du getan hast. Solltest du diese Zeit ungenützt verstreichen lassen, werde ich derjenige sein, der überall bekannt macht, was für ein Mensch du wirklich bist.«
Damit drehte er sich um und ließ Hubert Hirschler stehen.
Der spürte plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust. Nie hatte er Probleme mit dem Herzen gehabt, aber jetzt war es ihm, als wolle es aussetzen. Der Druck wurde immer stärker, und Hubert krümmte sich zusammen.
»Nein«, ächzte er, »das werd’ ich niemals tun!«
Dann richtete er sich auf und ignorierte den Schmerz.
»Hast du gehört?« rief er Franz Gruber hinterher. »Niemals werd’ ich das tun!«
Doch der hörte ihn nicht mehr. Der Mann, der das Unrecht an seinem Vater rächen wollte, war längst um die Wegbiegung verschwunden.
Mutlos sank Hubert wieder auf den Stein, auf dem er zuvor gesessen hatte, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte bitterlich.
*
»Wir haben also folgende Fakten«, sagte Sebastian Trenker zu seinem Bruder. »Erstens, Josef Gruber wurde aufgrund der Zeugenaussage von Hubert Hirschler verurteilt. Er verließ das Wachnertal nach Verbüßung der Haftstrafe und kehrte nie wieder zurück.
Zweitens, das gestohlene Medaillon gehörte Katharina Brandner, der Mutter der Frau, die Hubert Hirschler bald darauf heiratete, Maria Brandner. Sie erbte den Hof der Eltern, und nach einiger Zeit wurde er dann in Hirschlerhof umbenannt.
Drittens, nach mehr als fünfzig Jahren taucht der Sohn von Josef Gruber hier auf und sucht nach einem bestimmten Bauernhof, den er aber net finden kann, weil der ja längst umbenannt worden ist. Es deutet aber alles darauf hin, daß es sich um den Hirschlerhof handelt. Also will Franz Gruber etwas vom alten Hubert.
Aber was? Rache dafür, daß der damals seinen Vater beschuldigt hatte?«
Max hob die Hände und ließ sie wieder fallen.
»Schaut ganz so aus«, meinte er. »Und das müssen wir verhindern. Hast’ schon mit dem Hubert gesprochen?«
»Ich wollt’s heut’ morgen«, antwortete der Bergpfarrer. »Aber er war net daheim. Da fällt mir ein, der Vinzent sagte, sein Vater wäre mit einem Mann unterwegs. Einem Urlauber, der Georg Hinzmann heißt…«
»Du sagst es so nachdenklich…«, warf der Polizeibeamte ein.
»Ja, weil es mir seltsam vorkommt. Ausgerechnet jetzt macht der Hubert die Bekanntschaft eines Mannes, der hochdeutsch redet!« Sebastian nickte nachdenklich. »Das kann kein Zufall sein. Ich bin ziemlich sicher, daß es sich bei diesem Mann um Franz Gruber handelt, der sich bloß anders nennt. Auf alle Fälle könntest’ dich mal umhören, ob in irgendeiner Pension ein Mann mit diesem Namen wohnt. Es müßt’ auch eine Frau Hinzmann geben. Vinzent erzählte, daß sie leidend sei und immer im Ort bleibe, wenn ihr Mann unterwegs ist.«
»Das mach’ ich«, erwiderte sein Bruder. »Aber sag’ mal, Sebastian, meinst’ net auch, daß der Hubert in Lebensgefahr schwebt, wenn der Gruber wirklich auf Rache sinnt? Sollten wir net besser nach ihm suchen?«
»Den Gedanken hatte ich zuerst auch«, antwortete der gute Hirte von St. Johann. »Aber dann bin ich zu einem anderen Schluß gekommen. Würde Franz Gruber dem Altbauern wirklich ans Leben wollen, dann hätt’ er schon oft genug die Gelegenheit dazu gehabt. Immerhin ist’s heut’ net das erste Mal, daß sie eine Wanderung unternehmen. Nein, ich denk’ net, daß der Gruber dem Hubert ans Leben will. Seine Rache ist viel subtiler. Ich könnt’ mir vorstellen, daß er den Alten dazu zwingen will, die Wahrheit zu sagen, damit sein Vater endlich rehabilitiert wird.«
»Aber ist das net verrückt, nach so langer Zeit?« Max schüttelte den Kopf.
»Vielleicht ist es das wirklich«, sagte Sebastian. »Aber vermutlich hat der Sohn es dem Vater versprochen, und so, wie ich ihn einschätze, wird ihn nichts und niemand davon abbringen können.«
»Und was willst du jetzt tun?«
»Sie werden net den ganzen Tag unterwegs sein. Irgendwann kommt Franz Gruber in die Pension zurück. Ich hab’ Andreas gebeten, mich dann anzurufen. Wenn’s soweit ist, werd’ ich hinübergehen, und dann kann er mir net mehr ausweichen.«
Die Unterhaltung fand nach dem Mittagessen im Pfarrhaus statt. Max kam dazu immer noch vom Revier herüber. Claudia, seine Frau, arbeitete bei der Zeitung in GarmischPartenkirchen, und es lohnte für sie nicht, nach Hause zu fahren, weil ihre Mittagspause dafür einfach zu kurz war.
Der Polizeibeamte verabschiedete sich von seinem Bruder und versprach noch mal, sich nach einem Georg Hinzmann umzuhören. Er wollte gleich die Pensionen aufsuchen und nachfragen.
Pfarrer Trenker ging in sein Arbeitszimmer. Hier wartete immer noch die unerledigte Post vom Morgen. Als er sich setzte, fiel sein Blick auf das Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Es zeigte den Zwillingsgipfel, ›Himmelsspitz‹ und ›Wintermaid‹, in Öl gemalt.
Sebastian seufzte. Gerne wäre er mal wieder aufgestiegen und hätte den alten Franz Thurecker auf der Kandereralm besucht oder auf der Streusachhütte vorbeigeschaut. Aber die Ereignisse im Dorf gestatteten ihm dieses Vergnügen nicht. Erst einmal mußte die Angelegenheit um Franz Gruber und Hubert Hirschler aufgeklärt werden, ehe der Bergpfarrer sich wieder auf seine geliebte Bergtour machen konnte.
Seufzend nahm er sich den Briefstapel vor und versuchte, den Gedanken an die Berge und einen Aufstieg zu verdrängen.
*