»Ihr Mitglied der Gemeinde ist ein gemeiner Schuft!« stieß Gruber hervor. »Er hat einen Unschuldigen ins Gefängnis gebracht und sich an dessen Elend bereichert.«
Sebastian hob die Hand.
»Ich weiß, was Hubert Hirschler Ihrem Vater angetan hat«, sagte er. »Aber ist das wirklich ein Grund, nach mehr als fünfzig Jahren einen Rachefeldzug zu starten?«
»Er wird nicht ungeschoren davonkommen, das verspreche ich Ihnen!« rief Franz Gruber mit lauter Stimme.
»Und was wollen Sie unternehmen?« fragte der Bergpfarrer. »Ihn töten jedenfalls net. Dazu hätten S’ inzwischen mehr als einmal Gelegenheit gehabt.«
In den Augen des anderen stand ein amüsiertes Lächeln.
»Nein«, schüttelte der den Kopf, »umbringen will ich ihn nicht. Warum auch? Das wäre nur eine unzulängliche Rache. Am eigenen Leib soll Hirschler erfahren, was es heißt, wenn die Leute mit dem Finger auf einen zeigen, wenn hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wird, über den geachteten Bauern, der sein ganzes Lebensglück dem Unglück eines anderen verdankt.«
»Glauben Sie wirklich, daß das Ihren Vater befriedigt hätte?« äußerte Sebastian seine Zweifel.
»Ja, genau das denke ich«, rief Gruber, er nickte vehement. »Ich glaube es nicht, ich weiß es! Sein ganzes Leben hat mein Vater diesen Mann gehaßt. Immer hat er gewollt, daß Hubert Hirschler eines Tages für das bezahlen soll, was er ihm angetan hat. Ich habe es ihm versprochen, daß dieser Tag kommen wird. Und nun ist es soweit. Hirschler wird öffentlich bekennen, wessen er sich schuldig gemacht hat, oder ich werde es tun. Er hat die Wahl. Und dann wird mein Vater endlich seine Ruhe finden.«
Der Geistliche sah ihn nachdenklich an.
»Ich könnte es verstehen, wenn Ihr Vater hier vor mir sitzen würde«, sagte er. »Aber was bewegt Sie? Was sind Ihre Motive dafür?«
Franz Gruber erwiderte seinen Blick.
»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, Hochwürden«, antwortete er. »Ich bin in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. In meiner Jugend war das Elternhaus die Hölle für mich. Vater ist nie mit seinem Leben zufrieden gewesen, und das ließ er meine Mutter und mich spüren. Damals habe ich nie begriffen, warum er so war. Erst später hat mein Vater mir alles erzählt, und ich verstand ihn. Ihm wurde alles genommen, wovon er als junger Mann geträumt hatte. Sein Leben verlief anders, als er es geplant hatte, und dafür verfluchte er diesen Mann. Mir ging es nicht anders. Als ich älter wurde und lernte zu begreifen, verstand ich meinen Vater und seinen Haß auf Hubert Hirschler. Es ist nicht alleine seine Rache, die mich hierher trieb, sondern ein stückweit auch die meine. Dafür, daß meine Jugend so erbärmlich war, für die vielen durchweinten Nächte, die Prügel, die ich bekommen habe, wenn Vater wieder einmal seine Depressionen hatte, und für das Elend, das meine Mutter, die mit alledem nichts zu tun hatte, erleben mußte. Deswegen, Hochwürden, wird Hubert Hirschler nicht ungeschoren bleiben! Er wird in aller Öffentlichkeit bekennen, was für ein Mensch er wirklich ist!«
Pfarrer Trenker atmete tief durch. Dieser Mann, der ihm gegenübersaß, war so voller Haß, daß in diesem Augenblick kein vernünftiges Wort mit ihm zu reden war.
Er stand auf und schaute Franz Gruber an.
»Sie tun mir leid«, sagte er leise. »Mit Ihrer Rache im Herzen sind Sie blind für die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Wenn Sie zu mir gekommen wären, oder mit mir geredet hätten, als ich Sie ansprach, dann hätten wir sicher eine Lösung gefunden. Eine Entschuldigung vom Huber wäre Ihnen sicher net versagt geblieben, dafür hätt’ ich schon gesorgt. So aber wollen S’ einen Mann vernichten, der sich vielleicht sein Leben lang seiner Schuld bewußt war, die auf seinem Gewissen lastete und ihm sicher auch keine glücklichen Stunden bescherte.
Aber glauben S’ mir, Herr Gruber, ich werd’ net zulassen, daß Sie Hubert Hirschler vernichten, sein Ansehen in den Schmutz ziehen. Ganz gleich, was er getan hat, er ist eines meiner Schäfchen, und ich werd’ es genauso behüten, wie die anderen auch!«
*
Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, sprach Sebastian mit Marion. Die Frau seines Cousins saß in ihrem Arbeitszimmer. Trotz des Aufwands, der in der Pension ›Edelweiß‹ betrieben wurde, nahm Marion Trenker sich immer noch Zeit, ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen. Sie arbeitete seit Jahren für einen Hamburger Verlag für Kinder- und Jugendliteratur und übte diese Tätigkeit noch immer aus – wenn auch nicht in dem Ausmaß wie früher.
»Ich hab’ gerad’ mit eurem Gast gesprochen«, sagte der Geistliche.
Marion sah ihn ernst an.
»Ist der Herr Gruber denn inzwischen zugänglicher geworden?« erkundigte sie sich.
»Leider net«, erwiderte der Bergpfarrer. »Ganz im Gegenteil!«
Er erzählte, was er herausgefunden hatte, und wie Franz Gruber auf seinen Besuch reagiert hatte.
»Natürlich ist es schlimm, was seinem Vater widerfahren ist«, meinte Marion kopfschüttelnd. »Aber deshalb den Hirschler quasi vor allen Leuten zu blamieren, ist doch aber auch keine Lösung!«
»Sag’s ihm, net mir«, zuckte Sebastian die Schultern. »Aber du kannst sicher sein, daß ich ihn net einfach so gewähren lasse.«
»Was willst du denn unternehmen?«
»Das weiß ich ehrlich gesagt noch net. Auf jeden Fall muß ich mit dem Hubert sprechen. Net, daß da noch ein Unglück geschieht, weil er sich so in die Enge getrieben sieht.«
Er verabschiedete sich und fuhr gleich zum Hirschlerhof hinauf. Diesmal hatte er mehr Glück als am Morgen und traf den Altbauern in seiner Wohnung an.
»Grüß dich, Hubert«, sagte er. »Ich denk’, wir müssen mal miteinander reden. Über Franz Gruber…«
Hirschler nickte und bot ihm einen Platz an.
»Bist’ ganz allein’ zu Haus?«
»Die Klara und Franzi sind in die Stadt gefahren«, antwortete der Altbauer. »Vinzent ist mit dem Knecht droben im Wald.«
Er blickte den Besucher fragend an.
»Sind S’ jetzt hergekommen, um mich gleichfalls anzuklagen?« fragte er.
»Unsinn!« Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf. »Ich bin weder Kläger noch Richter. Was du getan hast, weiß ich, aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt geht’s mir darum, dir zur Seite zu stehen und zu helfen.«
Die Schultern des alten Mannes zuckten.
»Sie glauben net, wie sehr ich es bereut hab’«, sagte er leise. »Net erst, seit ich weiß, daß es der Sohn von Josef ist. Schon viel länger quälen mich die Gedanken an meine Schuld. Aber was geschehen ist, ist geschehen und läßt sich net wieder rückgängig machen. Ich hab’ gesündigt, Hochwürden, das ist wahr. Und wenn das Gesetz es will, dann bin ich bereit, meine Strafe dafür anzunehmen.«
Der Altbauer holte tief Luft.
»Aber ich bin net bereit, das was geschehen ist, in aller Öffentlichkeit auszubreiten!« setzte er bestimmt hinzu.
»Das wirst du auch net müssen«, sagte Sebastian. »Genau deshalb bin ich hier. Ich hab’ vorhin mit Franz Gruber gesprochen, und ich muß dir gleich sagen, daß es mir net gelungen ist, an ihn heranzukommen. Aber ich geb’ net auf, das versprech’ ich dir, Hubert.«
»Aber was können wir da machen?« fragte der Alte verzweifelt.
Pfarrer Trenker biß sich auf die Lippe, bevor er antwortete.
»Um eines wirst’ net herumkommen«, antwortete er. »Du mußt deiner Familie alles sagen. Oder weiß sie schon Bescheid?«
Hubert Hirschler wurde blaß.
»Nein«, entgegnete er. »Ich hab’s überlegt, aber ich schäm’ mich so…«
»Dein