„Der Arzt meinte, Sie könnten es lesen“, – Halyna lächelte müde.
„Ich kläre das sofort.“
Die Laborassistentin verschwand hinter der Tür, kehrte nach ein paar Minuten zurück und bat Halyna ins Behandlungszimmer.
Zwei Tage später händigte ihr dieselbe Laborassistentin den Befund aus. Halyna warf einen Blick darauf, die Buchstaben waren ebenso unleserlich und verschwammen ineinander, nur dass sie sich zur anderen Seite neigten.
„Um Himmels willen, haben alle Ärzte so eine Klaue?“, rutschte ihr heraus.
Die Laborassistentin lächelte, während sie genauso unleserlich die Untersuchungsergebnisse von jemand anderem in ein Formular eintrug. Halyna zahlte, nahm den Befund und verließ den Raum.
Vor dem Behandlungszimmer des Arztes, der sie ein paar Tage zuvor zur Blutuntersuchung geschickt hatte, saßen sieben Patienten, sie würde lange warten müssen. Oles schlief im Kinderwagen. Halyna schlug den Krimi auf, den sie zu Hause schnell in ihre Tasche geworfen hatte, aber die kleinen, auf billigem grauem Papier gedruckten Buchstaben verschwammen im schwachen Licht der flackernden Glühbirne.
„Ich habe Kreuzschmerzen, egal ob ich Tabletten schlucke oder nicht“, beklagte sich eine Wartende bei der anderen.
„Und mir tut die Lendenwirbelsäule manchmal so weh, dass ich nicht gehen kann“, pflichtete diese bei.
„Was soll man tun, das ist das Alter“, fuhr die erste fort.
Und synchron seufzten die beiden ins Leere.
Der Arzt erkannte Halyna sofort.
„Haben Sie die Untersuchung machen lassen?“
„Ja, aber um ehrlich zu sein, konnten sie dort die Überweisung nicht sofort entziffern.“
„Oje, diese Laborassistenten, und mitdenken können sie nicht? Aber die Ausbildung ist jetzt ja auch … Zeigen Sie mal her!“
Halyna gab ihm den Zettel.
„Was soll denn das alles heißen?“, entrüstete sich der Arzt.
Dann verfinsterte sich seine Miene.
„Was soll ich sagen … Ich sage nur: Sie haben noch Glück. Es könnte schlimmer sein.“
Die unleserlich zu Papier gebrachten Untersuchungsergebnisse besagten, dass Oles eine Gluten- und Laktoseunverträglichkeit hatte. Das Heimtückische an dieser Krankheit sei, dass sie sich anfangs kaum bemerkbar mache. Nimmt man die Substanzen hin und wieder zu sich, drohen höchstens leichte Verdauungsbeschwerden. Der regelmäßige Verzehr hingegen ruft unwiederbringliche Veränderungen im Organismus hervor: Das Gehirn arbeitet langsamer, die Funktionsweise der Muskeln wird beeinträchtigt, und kommt man dem nicht zuvor, können daraus schwerwiegende Gesundheitsprobleme entstehen, bis hin zur Invalidität. Die Krankheit bedürfe keiner Behandlung, nur der Einhaltung einer strengen Diät. Der Arzt sprach mit ihr in einem Tonfall, der kein besonderes Mitgefühl zuließ. Es gebe Patienten mit viel ernsteren Diagnosen, Halyna habe „noch Glück, es gibt viel Schlimmeres“ – das wiederholte er ein paar Mal. Dann faltete er noch einen Zettel, nahm ihn sofort wieder auseinander, legte ihn auf den allgemeinen Stapel und zog seine dichten schwarzen Augenbrauen zusammen, die einen starken Kontrast zum milchigen Weiß seiner Haare darstellten.
Später lächelte Halyna nur traurig, wenn sie an sein „Sie-haben-noch-Glück“ dachte. Ob er in der toten postsowjetischen Zeit je selbst eine solche Diät hatte einhalten müssen? Als es sogar schwierig war, an gewöhnliche Lebensmittel zu kommen, von Keksen ohne Weizenmehl und Ziegenmilch oder Milchpulver ganz zu schweigen. Jeden Morgen packte sie Oles in den Kinderwagen und versuchte, zwischen zwei Stillmahlzeiten alle Läden mit gleichsam hoffnungslos leeren Regalen in der Umgebung abzuklappern, um in jedem Laden einen Platz in der Schlange zu reservieren.
„Mama, was wollen die Frauen hier kaufen?“, fragte ein fünfjähriger Junge seine Mutter in der Schlange. „Es gibt ja nichts.“
„In einer Stunde kommt eine Lieferung, vielleicht bringen sie was“, erklärte ihm die Mutter.
„Und wenn sie wieder nur Knochen bringen, zwingst du mich dann, die Krautsuppe von gestern zu essen?“, fragte der Junge mit besorgter Stimme.
„Was passt dir an der Krautsuppe nicht?“, fragte die Mutter gereizt. „Woher sollte ich Marzipankartoffeln nehmen?“
Halyna hatte Mitleid mit dem Kleinen, der, statt auf dem Spielplatz zu toben, stundenlang irgendwo anstehen musste und wahrscheinlich keine Ahnung hatte, was Marzipan war. Außerdem hasste auch sie Krautsuppe.
Und wirklich, nach einiger Zeit drangen bekannte Geräusche aus dem Hinterzimmer, woraufhin die Verkäuferin eine wichtige Miene aufsetzte, geschäftig ihre Hände an der Schürze abwischte und durchs ganze Geschäft rief:
„Nicht mehr anstellen!“
Die Schlange seufzte einmütig, ordnete sich, die Leute rückten näher zusammen, die hintersten stellten sich neben den Ladentisch und kontrollierten, dass in keiner Hand mehr als die erlaubte Ration landete. Was geliefert worden war, fragte niemand.
„Gelingen Pfannkuchen auch, wenn man die Milch mit viel Wasser verdünnt und statt drei Eiern nur eines nimmt?“ – die Frauen in der Schlange tauschten Erfahrungen aus.
„Ja, nur pass mit dem Mehl auf, sonst werden sie pappig. Und du musst sie in Schmalz anbraten. Na ja, zumindest mit Speck, den du vorher in Öl getränkt hast, dann kleben sie nicht an.“
1895–1912
Das Schloss
Karl Stephan verwirklichte sein polnisches Projekt in großem Stil. Als Erstes schuf er sich das Haus seiner Träume. Zu dem Anwesen in Saybusch gehörten vierzigtausend Hektar Wald und zwei Schlösser. Das alte Schloss war von einem der früheren polnischen Eigentümer erbaut worden. Schon Stephans Onkel fand das Gebäude sehr unpraktisch und altmodisch, weshalb er ein zweites Schloss baute. Dieses sollte Karl Stephan von Habsburg beinahe fünfzehn Jahre lang erweitern. In dieser Zeit ließ er einen neuen Flügel mit modernem Glasdach errichten, in dem sich die Gästesuiten befanden, und unweit des Schlosses einen riesigen, mit Spiegelfliesen ausgestatteten Ballsaal. Das Silber, das Karl Stephan in seinem Schloss anhäufte, wog über fünfhundert Kilo.
In der Nähe des Schlosses wurde eine Kapelle erbaut, in der die Familie des Erzherzogs nach brieflicher Erlaubnis des Papstes dreimal täglich den Gottesdienst feierte. Zuerst wünschte sich Maria Theresia die Kapelle im gotischen Stil, doch dann fand sie diesen zu düster und ordnete an, im Stil der Renaissance zu bauen.
Die Innenausstattung des Schlosses und der anderen Gebäude auf dem Anwesen war für Karl Stephan äußerst wichtig. Er engagierte die bekanntesten galizischen Künstler, war aber mit ihrer Arbeit oft unzufrieden. Den ersten Entwurf der Möbel für das Zimmer seiner Tochter Eleonora bezeichnete er beispielweise als „aus Knochen nervöser Toter geschreinerte Gebilde“. Und obwohl ihr selbst die Möbel sehr gefielen, bestand Stephan darauf, sie abändern zu lassen. Die zornige Eleonora übermalte die Tapeten in einigen Zimmern mit schwarzer Farbe. Auch die Tapeten wurden gewechselt.
In Saybusch arbeiteten ausschließlich italienische Gärtner. Sowohl Karl Stephan als auch Maria Theresia waren davon überzeugt, dass nur Italiener einen Garten ordentlich pflegen konnten.
Jedes von Stephans Kindern bekam im Schloss seine eigene Suite, bestehend aus drei Zimmern: Schlafzimmer, Studierzimmer und Wohnzimmer. Außerdem gab es spezielle Spielzimmer. Im Kunstzimmer durften die Kinder mit den Fingern, die sie zuvor in Farbe tauchten, die Wände bemalen. Von Zeit zu Zeit wurde das Zimmer neu tapeziert, weiß mit kaum sichtbaren grauen Streifen. Weiters gab es im Schloss ein mannshohes Puppenhaus mit Puppen so groß wie siebenjährige Kinder. In Wilhelms Lieblingszimmer fuhr eine Spielzeugeisenbahn. Bei jeder Fahrt passierte ein Unfall, zwei Züge