Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Blake
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783534746316
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von Rechten nicht als moralisch verdächtig betrachten, wenn diese moralisch bedeutsame Unterschiede zwischen Personen widerspiegeln.

      2.2 Verteilungsgerechtigkeit

      Wir können mit diesen Gedanken nun im Hinblick auf das Argument der Verteilungsgerechtigkeit fortfahren. Zu Beginn möchte ich jedoch bemerken, dass ich selbst nicht über die Kompetenz verfüge, irgendwelche Aussagen bezüglich der empirischen Effekte treffen zu können, die der Ausschluss von Migrantinnen mit sich bringt; die Ökonomie der Migration ist, um es vorsichtig auszudrücken, ein kontrovers diskutiertes Feld und zudem sollte sich niemand an einen Philosophen wenden, wenn es um Fragen empirischer Zusammenhänge geht.43 Aus einer philosophischen Perspektive heraus kann ich jedoch so viel sagen: Selbst wenn wir unter Bezug auf die Idee der Verteilungsgerechtigkeit bestimmte Migrationsrechte rechtfertigen könnten, müssten wir immer noch dasjenige Bündel von Rechten identifizieren, das, moralisch betrachtet, die besten Resultate erzielt – und es ist unklar, ob aus einer Politik der offenen Grenzen eben solche Ergebnisse folgen würden. So hat zum einen Peter Higgins angeführt, dass offene Grenzen dazu neigen könnten, diejenigen zu benachteiligen, die aufgrund von körperlichen Einschränkungen, Alter oder sozialer Marginalisierung weniger mobil sind als andere.44 Eine auf der Idee der Verteilungsgerechtigkeit beruhende Theorie der Migration muss daher zwar auf eine radikale Veränderung des geltenden Migrationsrechts bestehen; allerdings ist nicht klar, ob diese Veränderung die Abschaffung eines Rechts auf Ausschluss umfassen muss.

      An dieser Stelle können wir zwei grundsätzlichere Herausforderungen für das Argument der Verteilungsgerechtigkeit anführen. Die erste fragt recht simpel, warum wir uns überhaupt um internationale Ungleichheit kümmern sollten. Das bedeutet selbstredend nicht, dass ich der Meinung wäre, wir sollten uns überhaupt nicht um sie kümmern; ich habe hier keinen Grund angeführt, aus dem zu folgern wäre, dass internationale Ungleichheit für unsere Erwägungen keine Rolle spielen sollte – und ziemlich sicher scheint globale Armut relevant zu sein und zwar ganz unabhängig davon, ob der Kluft zwischen Arm und Reich eine besondere Bedeutung zukommt oder nicht. Die von mir angeführte Herausforderung besagt bloß, dass es einer Begründung bedarf, warum Ungleichheit von Bedeutung ist – und dass es in meinen Augen nicht selbstverständlich ist, dass die besten derzeit verfügbaren Antworten auf diese Frage schlicht vom innerstaatlichen auf den internationalen Raum übertragen werden können. Rawls stellte mit Nachdruck fest, dass sein strenges Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit – das Differenzprinzip – nur innerhalb des Staates anwendbar sei; es kann daher nicht legitimerweise zwischen Staaten oder über sie hinweg angewendet werden. Damit möchte ich, wie gesagt, nicht den Eindruck erwecken, die Idee der Verteilungsgerechtigkeit zwischen Staaten wäre bedeutungslos. Vielmehr will ich bloß zeigen, dass es einer Rechtfertigung dafür bedarf, warum sie eine Rolle spielen sollte. Wenn uns gesagt wird, dass das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit anhand eines Rechts auf einen Anteil am globalen wirtschaftlichen Wohlstand begründet werden kann, dann ist die Frage berechtigt, was diesem Argument seine moralische Kraft verleiht.

      Die letzte grundlegende Herausforderung für die Argumente der Verteilungsgerechtigkeit besteht jedoch in einer etwas anderen Frage: Falls die Idee der Verteilungsgerechtigkeit von Bedeutung ist, wie würde sie sich dann zu anderen Normen politischer Gerechtigkeit verhalten, darunter der Idee der Selbstbestimmung? Verteilungsgerechtigkeit, um es klar zu sagen, ist nicht die einzig gültige politische Norm, sei es auf innerstaatlicher oder internationaler Ebene. Andere Rechte – wie beispielsweise das Recht, seine eigenen Angelegenheiten selbstbestimmt regeln zu dürfen – sind ebenfalls von Bedeutung. Selbst wenn gezeigt werden könnte, dass offene Grenzen die globale Verteilung von Gütern gerechter gestalten würden, könnten wir daraus nicht folgern, dass offene Grenzen verpflichtend seien. Stellen Sie sich zur Veranschaulichung das folgende Szenario innerhalb eines Staates vor: Ein bestimmtes Land wird vernünftig und gerecht regiert, betreibt jedoch eine recht schlichte (wenngleich populäre) Finanzpolitik, durch die eine große Menge an Goldbarren in der Zentralbank des Landes gelagert wird. Stellen Sie sich nun vor, dass Robin Hood erscheint, das Gold aus der Zentralbank befreit und es den Armen des Landes gibt – im Ergebnis ist die Verteilung des Wohlstands nun derjenigen näher gekommen, die unserer besten Vorstellung liberaler politischer Gerechtigkeit entspricht. Ist das Land nun moralisch verpflichtet, den Armen das Gold zu überlassen? Ich vermute, dass die Meinungen hier auseinander gehen werden, aber für mich lautet die Antwort: Nein. Verteilungsgerechtigkeit ist eine wichtige Norm, aber so verhält es sich auch mit der Idee der Selbstbestimmung, und Robin Hood ist nicht dazu berechtigt zu entscheiden, wie die Finanzpolitik eines Landes gestaltet werden sollte. Staaten – oder zumindest demokratische Staaten – haben ein Recht auf Dummheit, so lange sie sich im Rahmen der Menschenrechte bewegen.

      Daraus folgt jedoch, dass eine bestimmte Politik nicht bloß deshalb als zwingend gilt, weil sie zu einer gerechteren Verteilung von Gütern führen würde. Der Gedanke, dass offene Grenzen die Welt einer gerechten Verteilung näherbringen würden, stellt daher kein vollständiges Argument für offene Grenzen, sondern vielmehr erst dessen Ausgangspunkt dar.

      Über all dies könnte sicherlich noch sehr viel mehr gesagt werden. Ich denke, die Befürworterinnen offener Grenzen werden in der Lage sein, weitere Argumente dafür zu entwickeln, warum der Verteilungsgerechtigkeit größeres Gewicht zukommen sollte als Werten wie der Selbstbestimmung oder dem mutmaßlichen Recht darauf, die Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte eines Dritten zurückzuweisen, das ich in meinem eigenen Ansatz anführe. An dieser Stelle möchte ich jedoch nur darauf bestehen, dass solche Argumente vorgebracht werden müssen, um den auf der Idee der Verteilungsgerechtigkeit beruhenden Überlegungen Geltung zu verschaffen. Nun möchte ich allerdings mit der Untersuchung des Arguments der Chancengleichheit fortfahren, da es in meinen Augen die erfolgversprechendste Version des Arguments der Verteilungsgerechtigkeit darstellt. Hierzu werde ich Kieran Obermans Überlegungen genauer untersuchen, dessen Argumente sehr gut entwickelt und daher einer ausführlicheren Betrachtung wert sind.

      Oberman formuliert sein Argument der Chancengleichheit als Antwort auf die Behauptung David Millers, wir hätten kein Recht auf die größtmögliche, sondern bloß auf eine angemessene Menge an Lebensmöglichkeiten. Hiergegen verteidigt Oberman die Idee, dass alle Menschen einen Anspruch auf die größtmögliche Menge an verfügbaren Möglichkeiten haben, was er als „vollen Umfang verfügbarer Optionen zur persönlichen Lebensgestaltung“ bezeichnet.45 Er argumentiert gegen Miller, dass eine Person den Anspruch auf diesen vollen Umfang aufgrund der persönlichen und politischen Interessen besitzt, die den Kern des eigenen Lebens bilden. Darunter fällt zum Beispiel, dass ich zur Umsetzung eines bestimmten Lebensplans in ein anderes Land ziehen oder zu dem Zweck migrieren möchte, mehr darüber zu erfahren, wie andere Länder Politik betreiben. Laut Oberman käme die Verweigerung des Rechts auf eine derart motivierte Migration daher der Beseitigung verfügbarer Optionen innerhalb einer politischen Gemeinschaft gleich:

      „Sollte das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit die Menschen bloß zu einem ‚adäquaten‘ Umfang von Optionen der Lebensgestaltung berechtigen, würde den Bewohnerinnen der Staaten, in denen eine größere Menge solcher Optionen zur Verfügung steht, kein Menschenrecht auf freie Bewegung über das gesamte Gebiet ihres eigenen Staates hinweg zukommen. Sollte beispielsweise Belgien einen ‚adäquaten‘ Umfang solcher Optionen bieten, die Vereinigten Staaten im Vergleich dazu aber eine Vielzahl mehr, stünde Personen innerhalb der Vereinigten Staaten deutlich mehr als eine ‚adäquate‘ Menge an Optionen zur persönlichen Lebensgestaltung zur Verfügung. Bestünde allerdings bloß ein Recht auf eine ‚adäquate‘ Menge solcher Optionen, könnten die Vereinigten Staaten ihr Staatsgebiet in hunderte Parzellen von der Größe Belgiens aufteilen und jede einzelne Grenze zwischen den Parzellen mit Wachpersonal und Stacheldraht ausstatten, ohne dadurch das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit zu verletzen.“46

      Eine solche Position wäre laut Oberman genauso einfältig wie der Gedanke, dass ein Verbot der jüdischen Religion so lange keine Verletzung der Religionsfreiheit darstelle, wie eine „angemessene“ Auswahl anderer Religionen zur Verfügung stehe. Oberman legt nahe, dass in beiden Fällen die Chancengleichheit nur dann wirklich angemessen erfüllt ist, wenn jede Person ein Recht auf den vollen Umfang möglicher Optionen zur persönlichen Lebensgestaltung besitzt, was wiederum