Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Blake
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783534746316
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der Bestimmung dessen, was wir sagen könnten.

      Ein Großteil dieses Buches wird versuchen, eine bestimmte Vorstellung der Gerechtigkeit für den Bereich der Migration zu entwickeln. Mit ihr soll zugleich ein Ansatz ausgearbeitet werden, um die Freiheiten von Staaten im Hinblick darauf zu bestimmen, welche Migrantinnen sie einlassen oder aber ausschließen dürfen. Diese Vorstellung zu entwickeln bildet den Gegenstand der folgenden drei Kapitel. Beginnen möchte ich die Aufgabe in diesem Kapitel jedoch damit, dass ich zunächst diejenigen Theorien der Gerechtigkeit der Migration untersuche – und schließlich widerlege –, die gegen jegliches Recht auf Ausschluss ungebetener Migrantinnen argumentieren. Für diese Theoretikerinnen, die oftmals als Verteidiger offener Grenzen bezeichnet werden, gleicht der Versuch, ein gerechtes System des Ausschlusses zu entwickeln, dem Vorhaben, ein gerechtes System der Rassentrennung auszuarbeiten: Ein solches Vorhaben ist zwar nicht hoffnungslos, aber so etwas wie ein Widerspruch in sich.

      Die theoretischen Verteidiger offener Grenzen vertreten die extreme Version einer Seite der bereits weiter oben dargestellten Dialektik. Viele der Menschen, die davon abgestoßen waren, wie die Trump-Administration Immigrantinnen behandelt, haben versucht, diese als rassistisch und völkisch wahrgenommene Migrationspolitik zurückzuweisen. Nicht alle von ihnen glauben, dass Grenzen offen sein sollten. Viele sind einfach der Meinung, dass die Trump-Administration die Grenzen auf falsche Art und gegenüber den falschen Menschen schließt. Der Glaube, dass es Beschränkungen dessen gibt, wie der Staat an seinen Grenzen handeln darf, ist nicht identisch mit dem Gedanken, dass diese Grenzen offen sein sollten – obwohl die Trump-Administration oft versucht hat, jeglichen Widerstand gegenüber ihren migrationspolitischen Maßnahmen als Verteidigung offener Grenzen darzustellen. Die Befürwortung offener Grenzen ist also nicht die einzige Möglichkeit, dem populistischen Ansatz der Migrationspolitik etwas entgegenzusetzen. Tatsächlich findet sich gegenwärtig kaum ein politischer Akteur, der bereit wäre, die Möglichkeit offener Grenzen zu verteidigen. Nichtsdestotrotz ist der Gedanke, dass Staaten niemanden zu Recht ausschließen können, eine genauere Betrachtung wert. Sollte diese Idee erfolgreich verteidigt werden können, hätten wir gute Gründe, die scheinbar unvermeidlichen Einwanderungskontrollen infrage zu stellen. Wie Joseph Carens bemerkt, sollten wir uns nicht von der Tatsache abschrecken lassen, dass uns offene Grenzen in der gegenwärtigen Welt als unmöglich erscheinen, denn eine Welt ohne Sklaverei erschien einstmals ebenso fantastisch.

      Wo aber sollten wir mit der Verteidigung des Gedankens, dass Grenzen offen sein sollten, beginnen? In meinen Augen sollten wir uns durch den Begriff der Gerechtigkeit selbst inspirieren lassen. Laut Rawls verträgt sich Gerechtigkeit nicht mit willkürlichen Unterscheidungen, insbesondere dann nicht, wenn dadurch die grundlegenden Rechte und der materielle Besitz einzelner Personen betroffen sind. Wir könnten also meinen, dass die Praxis des Ausschlusses in beiden Hinsichten problematisch ist. Wenn die Vereinigten Staaten einer Migrantin aus einem relativ armen Land die Aufnahme verweigern, verurteilen sie diese Person zu einem Leben ohne denjenigen Wohlstand, der oft (wenn auch nicht immer) Teil des US-amerikanischen Lebens ist. Wenn sie die Aufnahme einer Person verweigern, die unter einem repressiven Regime lebt, verurteilen sie diese Person zu einem Leben ohne politische Freiheit. Wenn sie es einer Person, die zu migrieren versucht, versagen, ein von ihr gewähltes Projekt oder eine von ihr gewählte Beziehung in den Vereinigten Staaten zu verfolgen, beschränken sie die Möglichkeiten dieser Person, ein wertvolles Leben für sich und ihre Nächsten aufzubauen. Zudem tun die Vereinigten Staaten all das aufgrund einer Grenze, die aus einem moralischen Blickwinkel selbst als willkürlich erscheint; niemand hat es verdient, auf der „richtigen“ Seite einer bestimmten, auf dem Boden gezogenen Linie geboren zu werden. Darüber hinaus repräsentiert diese Linie nicht nur einfach materielle Ungleichheit, sondern auch eine Geschichte von Gräueln und kolonialer Ausbeutung: Viele der gegenwärtigen Zurückweisungen an der Grenze bestehen darin, dass ehemalige Kolonialmächte Menschen aus verarmten ehemaligen Kolonien die Einwanderung verweigern.21 Wir könnten, einfach anhand dieser Gedanken, eine Vorstellung der Migrationsgerechtigkeit entwerfen, in der alle Formen von Ausschluss mutmaßlich ungerecht sind. In seiner Zurückweisung aller Versuche, ein Recht auf Ausschluss zu rechtfertigen, bietet uns Chandran Kukathas eine anschauliche kleine Skizze der Möglichkeiten eines Arguments für offene Grenzen:

      „Wie also können Einschränkungen der Einwanderung, oder, allgemeiner, der Bewegungsfreiheit, gerechtfertigt werden? Es ist nicht leicht, solche Beschränkungen aus der Perspektive von Individuen oder Völkern allgemeingültig zu verteidigen. […] Ein Argument für die Beschränkung individueller Bewegungsfreiheit wird immer auch ein Argument sein, weshalb eine bestimmte (manchmal begünstigte) Gruppe dabei geschützt werden sollte, die Renten zu genießen, die sie sich durch das große Glück gesichert hat, in einem bestimmten Teil der Welt statt einem anderen zu leben.“22

      Dieses breit angelegte Argumentationsmuster führt also an, dass der Gedanke eines (potentiell) gerechtfertigten Systems staatlichen Ausschlusses eine Illusion sei, denn das Ziel aller liberalen Theoretikerinnen sollte es sein, jegliche Formen ungerechtfertigter Hierarchien niederzureißen – und die Struktur des Aufenthaltsrechts, die manche Menschen von manchen Orten ausschließt, könnte schlicht eine solche Form ungerechtfertigter Hierarchien darstellen. Ich denke, dass die Idee offener Grenzen in diesem Sinne einfach als eine Ausweitung des umfassenderen Systems von Bürgerrechten verstanden werden kann. Wie bereits Roger Nett vor einer Generation argumentierte, könnte es sich bei dem letzten Bürgerrecht – das vermutlich am schwierigsten durchzusetzen sei – um das Recht handeln, sich frei über die Erdoberfläche bewegen zu dürfen.23

      Ich möchte im weiteren Verlauf dieses Kapitels nun vier spezifischere Versionen des Arguments für offene Grenzen diskutieren. Dabei handelt es sich weniger um einzelne Argumente, als vielmehr um Gruppen von Argumenten, die Möglichkeiten darstellen, das skizzierte Argument gegen staatlichen Ausschluss genauer und rigoroser zu formulieren. Wie ich bereits bemerkt habe, bin ich nicht der Meinung, dass diese Argumente überzeugend sind. Mein Widerspruch beginnt damit, wie die verschiedenen Argumente die besondere Beziehung begreifen, die zwischen einem mit Zwangsbefugnissen ausgestatteten Staat und denjenigen Personen besteht, die ihr Leben unter den Gesetzes jenes Staates gestalten. In meinen Augen tendieren die Argumente für offene Grenzen einfach ausgedrückt dazu, die besonderen Verpflichtungen zu ignorieren, die Staaten gegenüber denjenigen haben, die in direkter Reichweite der staatlichen Zwangsbefugnis ihr Leben fristen. Sie tendieren darüber hinaus zu der Überzeugung, dass jegliches Bürgerrecht zugleich auch ein Menschenrecht sein sollte. Im Folgenden werde ich versuchen, sowohl meinen Dissens mit diesen Theoretikerinnen herauszuarbeiten, als auch den Verdienst, den sie an der Formulierung meines eigenen Ansatzes haben. In meinen Augen besteht ein zu großer Teil der Philosophie darin, die Fehler anderer aufzuspüren und eine theoretische Abhandlung ist immer dort am schwächsten, wo sie auf die Lücken anderer Ansätze verweist.24 Was ich hier vorbringe, soll daher nicht als Demonstration einer einwandfreien Widerlegung der verschiedenen Positionen für offene Grenzen verstanden werden – für solch ein Vorhaben sind diese Argumente sowohl zu komplex als auch zu gut. Vielmehr handelt es sich höchstens um die Darstellung von Überlegungen, aufgrund derer ich die verschiedenen Argumente nicht akzeptieren kann und das trotz der Schuld, in der ich bei ihren Urhebern stehe.

      1. Gerechtigkeit und Ausschluss

      Wie also können wir den Gedanken, dass ein Staat kein Recht darauf hat, ungebetene Einwanderer auszuschließen, präziser fassen? Ich sollte nebenbei anmerken, dass die von mir diskutierten Autoren oft bereit sind zu akzeptieren, dass ein Staat das Recht hat manche Personen auszuschließen – so beispielsweise diejenigen, die vorhaben, dem Staat oder seinen Einwohnerinnen zu schaden. Allerdings argumentieren sie dann, dass das Recht auf das Überqueren internationaler Grenzen sehr ähnlich dem Recht sei, sich innerhalb von Staaten zu bewegen oder sehr ähnlich dem Recht, seine Religion frei auszuüben: Abstrakt betrachtet ist es möglich, diese Rechte einzuschränken, allerdings nur in wirklich furchtbaren (und, so wird gehofft, untypischen) Situationen. Im allgemeinen Fall jedoch, in der eine Person Staatsgrenzen einfach aus denselben Gründen überqueren will, die sie auch dazu motivieren könnten, sich innerhalb dieser Grenzen zu bewegen, behandelt der Staat eine Person diesen Autoren zufolge ungerecht, wenn er sie von eben dieser Überquerung abhält. Was kann zur Unterstützung des Gedankens