Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Blake
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783534746316
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würde, könnte mit ihr nicht die Sklaverei als ungerecht verurteilt werden.14 Mit Blick auf unsere jüngere Geschichte könnten wir ähnliche Dinge über die Muster der Marginalisierung und Ausgrenzung in den Vereinigten Staaten zu Zeiten von Jim Crow sagen: In den USA zur Zeit der Rassentrennung wurden rechtlich im Prinzip gleichgestellten Personen völlig ungleiche Anteile an politischer Macht, materiellen Ressourcen und öffentlichem Respekt zuteil. Wie im Falle der Sklaverei könnten wir sagen: Sollten diese Verhältnisse nicht als ungerecht gelten, wie könnten wir irgendetwas als ungerecht bezeichnen? Es gibt keinen legitimen Grund zu glauben, dass eine solche Art von Ungleichheit mit Gerechtigkeit in Einklang zu bringen sei und jede Vorstellung der Gerechtigkeit, die Jim Crow als gerecht bezeichnet, könnte allein aufgrund dieser Tatsache zu Recht als ungerecht zurückgewiesen werden.

      Mit diesen Gedanken im Hinterkopf stellt sich die Frage, wie der abstrakte Begriff der Gerechtigkeit uns im Hinblick auf bestimmte Formen der Migration und der Migrationspolitik weiterhelfen könnte. Gibt es möglicherweise auch hier Schlussfolgerungen, die so eindeutig richtig sind, dass sie uns als Maßstab für die Bewertung von Gerechtigkeitsvorstellungen im Bereich der Migration dienen könnten?

      Es fällt schwer, anzunehmen, dass es irgendetwas im Bereich der Migrationspolitik gibt, das nicht durch irgendwen abgelehnt wird. Ich glaube jedoch, dass es einige Schlussfolgerungen gibt, die bloß schwerlich von irgendwem zurückgewiesen werden könnten, der behauptet, den Werten moralischer Gleichheit verpflichtet zu sein, die dem in diesem Buch verwendeten Begriff der Gerechtigkeit zugrunde liegen. Demzufolge gibt es tatsächlich einige Möglichkeiten, bestimmte Formen der Migrationspolitik als im gleichen Maße ungerecht – also tatsächlich eindeutig ungerecht – zu bezeichnen wie die Verhältnisse zu Zeiten von Jim Crow. Sollte dies zutreffen, müsste jede Vorstellung von Migrationsgerechtigkeit entweder diese Schlussfolgerungen anerkennen oder mit einer recht wagemutigen Geschichte darüber aufwarten, warum sie dazu nicht verpflichtet ist; und ich kann mir nicht einmal ausmalen, wie eine solche Geschichte aussehen sollte.

      Der erste Orientierungspunkt bezieht sich auf die Idee der Gleichheit von Bürgerinnen gegenüber dem Staat. Migrationspolitik betrifft demnach nicht bloß diejenigen außerhalb der Grenzen; wie diese Politik wahrgenommen und durchgesetzt wird kann durchaus auch die Gleichheit derjenigen einschränken, die selbst keine Migrantinnen sind. Denken Sie beispielsweise daran, wie die Rassifizierung des Migrationsrechts das öffentliche Leben für Bürgerinnen lateinamerikanischer und nicht-lateinamerikanischer Herkunft beeinflussen kann. So schafften beispielsweise die von Sheriff Joe Arpaio angewendeten Praktiken zur Durchsetzung des Migrationsrechts ein Klima der Angst und Einschüchterung unter den Bürgerinnen lateinamerikanischer Herkunft von Phoenix, und zwar ganz unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status: Arpaio schikanierte mit seinen Kontrollen regelmäßig Autofahrerinnen und Autofahrer lateinamerikanischer Herkunft und richtete sogar eine Task Force zu dem Zwecke ein, undokumentierte Einwanderer aufzuspüren und zu bestrafen, was schließlich dazu führte, dass die betroffenen Bürgerinnen in den einfachsten Verrichtungen ihres Alltags eingeschränkt wurden.15 Die soziale Funktion der wiederholten Erfahrung solcher Maßnahmen besteht letztlich in der Marginalisierung und Disziplinierung aller Einwohnerinnen, die aus Lateinamerika stammen. Amy Reed-Sandoval bezeichnet die Maßnahmen von Arpaios Beamten berechtigterweise als ein Schauspiel der Ungleichheit, durch das die Betroffenen an ihren untergeordneten und marginalisierten Status erinnert werden sollen.16 Eine Theorie der Gerechtigkeit der Migration wird daher anerkennen müssen, dass bestimmte Ausschluss- und Durchsetzungsformen zu Ungleichheiten zwischen Bürgerinnen führen können und diejenigen Ungleichheiten zwischen Bürgerinnen, die innerstaatlich als Ausweis für Ungerechtigkeit gelten, werden auf ähnliche Weise auch im Hinblick auf die Bewertung der Migrationspolitik als Maßstab dienen können.

      Der zweite Orientierungspunkt bezieht sich auf den Gedanken, dass es Bereiche geben kann, in denen Nicht-Bürgerinnen einen Anspruch darauf haben, vor dem Gesetz ebenso behandelt zu werden wie Bürgerinnen. Wie ausgedehnt diese Bereiche sind, ist selbstredend Gegenstand kontroverser Diskussionen. So dient die Beschwörung der „Illegalität“ beispielsweise oft dem Zweck, die Inanspruchnahme von Rechten durch Migrantinnen prinzipiell zu diskreditieren. (Der rechte Slogan What part of illegal dont‘t you understand? versucht gar, undokumentierten Migrantinnen unter Verweis auf ihren fehlenden legalen Aufenthaltstitel jeglichen moralischen Status abzusprechen.) Aber diese Beschwörung der Illegalität scheint nicht wirklich stark genug, um den Gedanken zu widerlegen, dass es Bereiche gibt, in denen selbst diejenigen außerhalb des Staatsgebiets – oder diejenigen, die ohne Recht innerhalb des Staates anwesend sind – das Recht auf die gleiche Behandlung wie Bürgerinnen haben. Ein einfaches Beispiel ist sicherlich der Schutz durch die Polizei: Unrechtmäßig in den USA lebende Personen sind zwar stets von Abschiebung bedroht, verlieren hierdurch jedoch nicht ihr Recht auf den Schutz vor Mord oder Raub.17 Ein anderes Beispiel ist der Fall von Kindern, deren unrechtmäßige Präsenz korrekterweise als Ergebnis der Handlungen ihrer Eltern verstanden wird und nicht als Resultat einer Handlung der Kinder. Der Supreme Court bemerkte in Plyler v. Doe, dass sich daraus auch für diejenigen ein Recht auf Grundschulbildung ableitet, die sich ohne Aufenthaltsrecht in den USA aufhalten:

      „Zumindest sollten diejenigen, die unser Staatsgebiet insgeheim und unter Verletzung unseres Gesetzes betreten, darauf gefasst sein, die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen, darunter, wenn auch nicht allein, die Abschiebung. Allerdings trifft dies auf die Kinder dieser illegal eingereisten Personen nicht auf gleiche Weise zu. Ihre Eltern können das eigene Verhalten den geltenden sozialen Regeln anpassen und es ist anzunehmen, dass sie das Hoheitsgebiet des jeweiligen Bundesstaates auch wieder verlassen können; aber die Kinder, die im vorliegenden Fall die Klägerinnen sind, können weder das Verhalten ihrer Eltern noch ihre eigene Lage beeinflussen. Selbst wenn der Bundesstaat es als angebracht ansehen sollte, das Verhalten der Eltern durch Handlungen gegen deren Kinder zu beeinflussen, steht eine Gesetzgebung, welche die Folgen elterlicher Verfehlungen gegen deren Kinder wendet, im Widerspruch zu fundamentalen Vorstellungen der Gerechtigkeit.“18

      Mit anderen Worten: Es gibt einige eindeutige Fälle, in denen Immigrantinnen durch eine Bestrafung ungerecht behandelt werden, selbst dann, wenn im Einzelfall kein Recht auf einen Aufenthalt in dem Land besteht, das diese Strafe aussprechen möchte. Dem Supreme Court zufolge gibt es also Maßnahmen, die wir nicht nutzen dürfen, selbst wenn sie ein effektives Mittel zur Prävention unerlaubter Einwanderung wären. Die jüngsten Anstrengungen der Trump-Administration, die Kinder von Immigrantinnen direkt an der Grenze von ihren Eltern zu trennen, scheinen diesen moralischen Punkt zu missachten: Kinder werden unfair behandelt, wenn sie zu Unrecht für die Handlungen ihrer Eltern verantwortlich gemacht werden und ihnen die Fürsorge durch ihre Eltern verweigert wird – und es ist ungerecht, sowohl diesen Kinder, als auch ihren Eltern gegenüber, sie diesem Leid auszusetzen.

      Der letzte Orientierungspunkt, den ich hervorheben möchte, ist womöglich der wichtigste: Es gibt Personen, in deren Fall die meisten von uns glauben, dass ein Recht auf Einwanderung besteht. Der gegenwärtige Rechtsbegriff des Flüchtlings entwickelte sich aus dem Grauen des Zweiten Weltkriegs und der daran anschließenden Scham vieler Staaten über die Zurückweisung derjenigen, die den mörderischen Intentionen des Nazi-Regimes zu entfliehen versucht hatten.19 Wir können und sollten uns fragen, wer genau zum Schutz unter dem Abkommen berechtigt ist, das die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts bildet; ich werde diese Frage in Kapitel sieben behandeln. Aber ich denke, die Abscheu gegenüber der Entscheidung der Vereinigten Staaten, die Flüchtlinge der St. Louis zurückzuweisen, sollte uns in diesem Fall eine Lehre sein.20 Bestimmte Gruppen von Menschen haben gewiss das Recht, vor bestimmten Formen von Grausamkeit und Übeln geschützt zu werden und eine Theorie der Gerechtigkeit der Migration, die diese Tatsache nicht anerkennen möchte, wäre bereits alleine aufgrund dieses Mangels abzulehnen. Der Flüchtling hat ein Recht auf Zuflucht und wir können sagen, dass die Verweigerung dieses Recht einer unfairen Behandlung gleichkommt – die Sprache der Gerechtigkeit erlaubt es uns, einen solchen Anspruch festzustellen.

      Diese Orientierungspunkte setzen unserer Diskussion über die Gerechtigkeit der Migration also einige Schranken. Allerdings bieten sie uns nicht viel. Wir benötigen noch mehr Orientierungshilfen, um die abstrakte Idee der Gerechtigkeit auf das Gebiet der Migration anwenden zu können. Denn was ich bisher dargelegt