Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Blake
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783534746316
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vier von mir diskutierten Versionen eines möglichen Beweises bezeichne ich als die Argumente der Willkürlichkeit, der Verteilungsgerechtigkeit, der Kohärenz mit bestehenden Bewegungsrechten und der Zwangsgewalt. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Argumenten sind allerdings eher durchlässig; so könnten diejenigen, die eine Art dieser Argumente vorbringen, auch zugleich all die anderen anführen. Allerdings werde ich die unterschiedlichen Positionen zum Zwecke der analytischen Klarheit als eigenständige Argumente diskutieren und versuchen, jedes möglichst vorteilhaft darzustellen. All diese Ansätze haben eine ähnliche Struktur: Sie nutzen die groben Umrisse des bereits dargestellten Gerechtigkeitsbegriffs um zu zeigen, dass der ausschließende Staat die durch ihn Ausgeschlossenen dadurch in ihren Rechten verletzt, dass er sie unfair behandelt. Zudem verwenden sie häufig eine ähnliche Strategie: Ihnen zufolge unterstützen die Normen und Prinzipien, die wir bereits als Teil liberaler Gerechtigkeit anerkennen, den Gedanken, dass ein moralisches Recht auf freien Grenzübertritt zu Recht als Teil des Liberalismus betrachtet wird. Somit haben all diese Überlegungen ein gewichtiges Argument: Menschen als gleichwertig und mit Respekt zu behandeln bedeutet, sie nicht gewaltsam davon abzuhalten, an den Ort ihrer Wahl zu gelangen.25

      1.1 Willkürlichkeit

      Eine Möglichkeit, für offene Grenzen zu argumentieren, beruht schlicht auf dem, was bereits weiter oben erwähnt wurde: Grenzen sind demnach unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich, da sie im Allgemeinen eher die gemeinsame Vergangenheit kolonialer Gewalt denn irgendetwas von moralischer Bedeutung repräsentieren. Sie sind selbstverständlich auch in der Hinsicht willkürlich, dass niemand behaupten könnte, er habe es in irgendeinem bedeutsamen Sinne verdient, auf der begünstigten Seite einer Grenze geboren worden zu sein. Das weiter oben angeführte Zitat von Chandran-Kukathas stellt einen Ausdruck dieses Gedankens dar: Wenn es den derzeitigen Einwohnerinnen eines Ortes erlaubt ist, ungebetene Immigrantinnen auszuschließen, fungiert der Zufall des Geburtsortes als Grundprinzip der Verteilung von Rechten. Joseph Carens’ frühes Werk zu diesem Thema zieht eine Parallele zwischen der Staatsbürgerschaft in einem reichen, attraktiven Staat und den Privilegien, die im Feudalismus mit der Geburt verbunden waren: „ein vererbter Status, der die Lebenschancen massiv verbessert.“26 Das Argument der Willkürlichkeit hängt jedoch nicht von materiellen Ungleichheiten ab oder davon, dass ein Staat wohlhabender als andere Staaten ist. Diesem Argument zufolge genügt bereits die Tatsache willkürlicher Unterschiede in der Verteilung von Rechten – Ihnen ist es aufgrund ihres Geburtsortes oder ihrer Eltern erlaubt, in Deutschland zu leben, mir nicht – um die Überzeugung zu rechtfertigen, dass Ausschluss ungerecht sei.

      Carens ist nicht allein mit dem Gedanken, dass bereits die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen den Ausschluss von Migrantinnen als ungerecht ausweist. Philip Cole argumentiert auf ganz ähnliche Weise, dass Liberale nicht meinen können, das Recht auf Ausschluss stünde im Einklang mit der liberalen Vorstellung von Gerechtigkeit. Cole geht sogar insofern weiter als Carens, als dass er meint, die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen könnte uns dazu zwingen, die Vorstellung liberaler Gerechtigkeit an sich zu überdenken:

      „Wie wir sehen werden, geben viele Autoren zu, dass der Liberalismus exklusive Mitgliedschaften prinzipiell und Einschränkungen der Einwanderung praktisch ablehnen sollte, und zwar aufgrund seiner Verpflichtung gegenüber der moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen als solche und der daraus resultierenden Abscheu gegenüber willkürlichen Unterscheidungen zwischen ihnen. Aber angesichts dieses Eingeständnisses fahren sie damit fort, eine Rechtfertigung für den Ausschluss von Migrantinnen zu suchen, oftmals auf der Basis des Gedankens, dass es möglich sein muss, eine von liberal-demokratischen Staaten so weitgehend akzeptierte Praxis zu rechtfertigen. Aber wie wir sehen werden, stellt ein solches Unterfangen die liberale Theorie vor besondere Probleme. Der Zweck dieses Buches ist es, diese Probleme zu untersuchen.“27

      Coles Analyse zufolge begründet die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen den Schluss, dass die Praxis staatlichen Ausschlusses ungerechtfertigt ist. Die Tatsache, dass wir nicht bereit sind, diesen Schluss zu akzeptieren, ist für Cole Beweis dafür, dass wir vielleicht eher einer neuen Form der Debatte bedürfen – nicht nur über Grenzen, sondern über politische Gerechtigkeit im weiteren Sinne.

      1.2 Verteilungsgerechtigkeit

      Das soeben dargestellte Argument gewinnt offensichtlich an Stärke, wenn anerkannt wird, dass Staatsgrenzen nicht nur Bürgerinnen und Migrantinnen trennen, sondern oft auch wohlhabende von armen Menschen. Der Gedanke, dass die Zurückweisung von Migrantinnen nicht nur in sich falsch ist, sondern auch, weil sie die distributiven Rechte der Armen dieser Welt untergräbt, bildet die Grundlage für ein weiteres, starkes und wichtiges Argument gegen ein Recht auf Ausschluss. Seine Begründung kann allerdings zwei verschiedene Formen annehmen: Sie kann zum einen auf Überlegungen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, zum anderen auf Überlegungen der Chancengleichheit beruhen.

      Das Argument der wirtschaftlichen Gerechtigkeit führt die schlichte Tatsache globaler wirtschaftlicher Ungleichheit an und zeigt, wie verschiedene Arten des Ausschlusses potentieller Migranten durch die reicheren Länder Nordamerikas und Europas dazu tendieren, diese ungleiche Verteilung des globalen Wohlstands zu verstärken. Dieses Argument kann durch Prognosen hinsichtlich möglicher Wohlstandsgewinne durch offene Grenzen weiter verstärkt werden. Wie Michael Clemens gezeigt hat, könnte die Abschaffung staatlicher Grenzen wirtschaftliche Gewinne vom anderthalbfachen Umfang des gegenwärtigen globalen Bruttoinlandsprodukts schaffen.28 Darüber hinaus haben Geldüberweisungen von Migrantinnen, die aus einkommensschwachen in einkommensstarke Länder migriert sind, bedeutende Auswirkungen auf die Entwicklung jener einkommensschwachen Länder; laut Schätzungen ist der Umfang dieser Überweisungen derzeit größer als die weltweiten Aufwendungen für Entwicklungshilfe.29 Der Punkt ist jedoch nicht, dass der Ausschluss von Migrantinnen die Welt ärmer macht als sie sein könnte. Zentral ist vielmehr, dass das Recht auf Ausschluss es den Wohlhabenden effektiv erlaubt, ihren Wohlstand trotz legitimer Gerechtigkeitsansprüche des armen Teils der Weltbevölkerung zu bewahren.30 Darauf bezieht sich Kukathas’ Argument der Renten und Carens’ Argument des Feudalismus – wir meinen, dass die Wohlhabenden dieser Welt eine bessere Rechtfertigung für ihren Reichtum anführen können sollten als bloßes Glück. Mehr als die meisten anderen Philosophen fügt Philip Cole alldem den Gedanken hinzu, dass unsere gemeinsame Erfahrung globaler Ungleichheit auch eine gemeinsame Geschichte kolonialer Gewalt und kolonialen Grauens widerspiegelt. Es ist demnach nicht bloß so, dass wir die Armut derjenigen verstetigen, die das Pech hatten, in einem Entwicklungsland geboren worden zu sein. Vielmehr setzen wir bis zum heutigen Tag eben jene koloniale Ausbeutung fort, die ursprünglich bestimmt hat, welches Land sich entwickeln konnte und welches nicht.

      Der zweite Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit, den ich diskutieren möchte, ist das Prinzip der Chancengleichheit. Wir sind überzeugt davon, dass Chancengleichheit innerhalb von Staaten ein zentraler Wert ist – wie John Rawls in seinen eigenen Ausführungen zur Gerechtigkeit feststellt, wäre eine Gesellschaft ungerecht, in der es keine zuverlässige Gewährleistung der Chancengleichheit gibt. Allerdings schaffen Staatsgrenzen eine Welt radikal ungleicher Chancen, indem sie Menschen daran hindern, an den Ort ihrer Wahl zu gelangen. Diese Version des Arguments könnte unter der Überschrift „Gleiche Freiheit“ diskutiert werden, wie etwa bei Kieran Oberman, oder schlicht als ein weiterer Fall ungleicher Chancen. Laut Carens ist der springende Punkt in diesem Fall jedoch, dass wir jeden Tag Zwangsgewalt einsetzen, um Menschen davon abzuhalten, ein besseres Leben für sich und ihre Familien aufzubauen. Oberman betont diesen Punkt besonders nachdrücklich: Ihm zufolge schulden wir Menschen nicht bloß einen adäquaten Umfang an Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens, sondern den größtmöglichen. Da es laut Oberman für Personen von essentiellem Interesse ist, am Ort ihrer Wahl ein Leben gemäß ihrer Wertvorstellungen aufzubauen, wäre es folglich allein globale Bewegungsfreiheit, die mit der von uns vorgeblich hochgeschätzten liberalen Vorstellung von Gerechtigkeit kompatibel ist.

      1.3 Kohärenz mit bestehenden Bewegungsrechten

      Das Argument gegen den staatlichen Ausschluss von Migrantinnen erfährt darüber hinaus auch dadurch Unterstützung, dass liberale