Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Blake
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783534746316
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einer vorpolitischen Situation wäre es unsere erste Aufgabe, eine Welt zu schaffen, in der Politik überhaupt erst möglich wird. Das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen, besteht meiner Meinung nach zu Recht gegenüber jedem Staat und zwar aus Gründen politischer Rechtfertigung. Aber in meinen Augen gibt es keinen Grund zu meinen, die Bewegungsfreiheit selbst sei auf die Art moralisch relevant, wie Carens und andere es behaupten.

      Ähnliche Überlegungen können in meinen Augen auch gegen das Argument vorgebracht werden, dass aus der Kohärenz mit einem Recht auf Emigration ein präsumtives Recht gegen Ausschluss folgt. Wie ich bereits an anderer Stelle gezeigt habe, hat ein Staat kein Recht darauf, seine Einwohnerinnen mittels Zwangsgewalt in seinem Hoheitsgebiet zu halten, wenn andernfalls diese Einwohnerinnen frei wären, den Zugriffsbereich des staatlichen Zwangs zu verlassen und einer anderen politischen Gemeinschaft beizutreten.55 Der Staat sollte Personen nicht durch die Androhung von Waffengewalt dazu zwingen, weiterhin mit ihm in einer politischen Beziehung zu stehen. Daraus folgt jedoch nicht, dass es ihm niemals gestattet ist, durch die Androhung solcher Gewalt Menschen am Beitritt zu einer solchen Beziehung zu hindern. Es verhält sich hierbei genauso wie wenn ich meine Haustür abschließe, um Sie in meinem Haus zu halten, oder wenn ich mit dem Abschließen bezwecke, Sie aus meinem Haus herauszuhalten. Letzteres ist moralisch in vielen Fällen zulässig, ersteres wird hingegen allgemein als moralisch falsch angesehen.

      David Miller nutzt diese Ideen, um die Kohärenz eines Systems an Rechten zu verteidigen, dem zufolge einer Person zwar ein Recht auf Auswanderung aus seinem Heimatland zukommt, sie jedoch zugleich kein Recht darauf besitzt, ein Land ihrer Wahl zu betreten.56 Christopher Heath Wellman nutzt die Analogie des Rechts auf Heirat – also das Recht darauf, eine Person zu heiraten, die freiwillig zustimmt, mich zu heiraten. Das Recht zu heiraten gewährleistet folglich kein Recht auf die Ehepartnerin oder den Ehepartner eigener Wahl, da keine Person einen Anspruch auf die Körper oder die Arbeit anderer zur Umsetzung seines eigenen Lebensplans besitzt.57

      In seiner Verteidigung der Inkompatibilität eines Rechts auf Auswanderung mit einem Recht auf Ausschluss weist Cole diese Analogien mit dem Argument zurück, dass eine Person auch ohne Eheschließung ein gutes Leben führen könne, ganz im Gegensatz zu einem Leben ohne Staat:

      „Niemand muss jemals in eine Ehe, einen Golfclub oder irgendeine der anderen Vereinigungen eintreten, auf die im Kontext der Migrationsdebatte häufig Bezug genommen wird. Aus diesem Grund ist es in diesen Fällen plausibel, anzunehmen, dass ein Recht auf Austritt nicht mit einem Recht auf Zutritt einhergeht, da hier der Austritt nicht notwendig von einem Zutritt andernorts abhängt. Eine Person kann vom Recht auf Austritt aus einer dieser Vereinigungen Gebrauch machen ohne einer anderen Vereinigung beizutreten, und dabei ist besonders auf den ‚Raum‘ außerhalb der einzelnen Vereinigungen zu verweisen, der frei betretbar ist und in dem jede Person ihre eigenen Lebensvorstellungen, so sie denn mag, gut verfolgen kann. Das ist jedoch auf drastische und bedeutsame Weise nicht der Fall, wenn es um Nationalstaaten geht. […] Es gibt zwar einen ‚Raum‘ der Staatenlosigkeit, aber diesen will kein Mensch betreten – er ist zutiefst problematisch, gefährlich und macht es unmöglich, eigene Lebensvorstellungen überhaupt zu entwickeln. Während es also plausibel ist, ein Recht auf Austritt ohne ein damit einhergehendes Recht auf Zutritt im Falle von Vereinigungen wie der Ehe oder bei Golfclubs anzunehmen, da es hier für den Austritt nicht zwingend eines Zutritts zu einer anderen Vereinigungen bedarf, liegt der Fall bei Nationalstaaten gänzlich anders, da hier das Recht auf Auswanderung den Zutritt zu einem anderen Gemeinwesen voraussetzt. Daher ist es in diesem Fall plausibel, dass aus dem Recht auf Austritt auch ein Recht auf Zutritt folgt.“58

      Für Cole setzt die Existenz eines Rechts auf Austritt daher eine tatsächlich verfügbare Möglichkeit dieses Austritts voraus. Das erscheint jedoch seltsam: Ich kann durchaus die Freiheit haben, etwas zu tun, ohne dabei auch über die konkreten Mittel zu verfügen, die für die Nutzung dieser Freiheit vonnöten sind. Rawls’ Unterscheidung zwischen der Freiheit und dem Wert der Freiheit dient exakt dem Zweck, diese Differenz hervorzuheben; wir wollen zwischen der Freiheit, etwas zu tun, und meiner Verfügung über die dafür notwendigen Mittel unterscheiden können. Es erscheint daher schlicht falsch, anzunehmen, dass das Recht auf Austritt nur dann existiert, wenn eine Person dieses Recht auch tatsächlich nutzen kann – so wie es falsch ist, zu meinen, dass mein Recht auf Religionsfreiheit nur dann existiert, wenn ich die von meinem Glauben geforderte teure Pilgerreise unternehmen kann. Diesen Umstand erkennt selbst Carens an: Das Recht auf freie Migration, so bemerkt er, ist es wert, um seiner selbst willen verteidigt zu werden – selbst für diejenigen, die (noch) nicht über die Mittel verfügen, dieses Recht auch tatsächlich zu nutzen.59

      Wir können daher die moralische Relevanz eines Rechts auf Austritt auch in einer Welt verteidigen, in der der Nutzung dieses Rechts mitunter bedeutende Hindernisse entgegenstehen. Dafür muss sich der Liberalismus nicht schämen; vielmehr ist es ein weiterer Beweis dafür, dass liberale Theoretikerinnen zwischen Rechten und den für ihre Nutzung nötigen Mitteln unterscheiden sollten. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal wiederholen, dass das Verständnis von Rechten häufig nicht einfach unter Bezugnahme auf individuelle Interessen verstanden wird, sondern mit Blick auf die Akteure, die gedenken, im Rahmen oder entgegen dieser Interessen zu handeln. Das Recht auf Emigration ist das Recht darauf, nicht aufgrund von Zwang in einer dauerhaften Beziehung mit dem eigenen Staat verbleiben zu müssen. Dem Staat sollte es, einfach ausgedrückt, nicht erlaubt sein, diese Beziehung mittels Gewalt aufrechtzuerhalten. Aber daraus folgt nicht, dass wir einen Anspruch auf die Mittel haben, die für die Migration zwischen Staaten benötigt werden.

      2.4 Zwangsgewalt

      Meiner Antwort auf dieses Argument möchte ich die Bemerkung voranstellen, dass das Konzept des Zwangs im Allgemeinen nicht als eigenständiger Grund für offene Grenzen angeführt wird. Anzuerkennen, dass wir an den Grenzen Zwangsgewalt ausüben, zielt vielmehr darauf ab, die Annahme zu erschüttern, Ausschluss wäre moralisch unproblematisch. Wir bedrohen Individuen an der Grenze und müssen ihnen daher vielleicht auch eine Rechtfertigung für unser Handeln anbieten. Diese Tatsachen nutzt Abizadeh, um auf der Unzulässigkeit der einseitigen Zurückweisung von Personen zu bestehen. Carens wiederum verweist in seinem Argument auf diesen Umstand, um die von mir getroffene Unterscheidung – zwischen denjenigen, die sich in Reichweite der Zwangsbefugnis des Staates befinden und denjenigen, die in diese Reichweite gelangen wollen – als moralisch falsch zu verwerfen. Schließlich wird über die Menschen an den Grenzen ebenso Zwangsgewalt ausgeübt und jener Zwang hat ebenfalls „tiefgreifende Folgen“, die in ihrer Schwere den Folgen gleichkommen, die innerstaatlicher Zwang für die Bürgerinnen des ausschließenden Staates bedeutet.60

      Allerdings können wir auch in diesem Fall fragen, ob es allein die Stärke des infrage stehenden Interesses ist, die ein politisches Recht begründen kann. Ein Staat schuldet verschiedenen Menschen unterschiedliche Dinge, und zwar abhängig davon, wie und wo er Zwangsgewalt über sie ausübt. Daraus folgt jedoch nicht, dass alle der von dieser Zwangsgewalt betroffenen Personen über dieselben Rechte angesichts dieses staatlichen Zwangs verfügen. Ganz klar ins Auge fällt dieser Umstand im innerstaatlichen Kontext. Wenn meine Frau durch den Staat bestraft wird, ergeben sich daraus unzweifelhaft auch bedeutende Folgen für mich selbst. Ich könnte in manchen Fällen durch die Haft meiner Frau in gleichem Maße geschädigt werden wie sie selbst. Aber daraus folgt nicht, dass die Strafe für meine Frau nicht insbesondere ihr gegenüber gerechtfertigt werden sollte. Während in diesem Fall zwar wir beide in unseren Interessen betroffen sind, ist sie allein diejenige, die durch die Zwangsgewalt des Staates bestraft wird und dieser Umstand stattet sie mit Rechten aus, die mir nicht zukommen. Es ist daher, in anderen Worten, nicht die gefühlte Bedeutung dessen, was mir angetan wird, die den zentralen Teil unserer Diskussion darstellen sollte, sondern ob das, was mir angetan wird, gerechtfertigt ist.

      Diese Ideen können wir nun auf den Einsatz von Zwangsgewalt an Staatsgrenzen anwenden. Stellen Sie sich vor, ich möchte nach England ziehen und wurde davon mit gewaltsamen Mitteln abgehalten – diese Zurückweisung macht es mir nun unmöglich, eine Reihe von Dingen zu erreichen, die ich gerne in meinem Leben hätte. Wir können uns darüber hinaus vorstellen, dass meine Zurückweisung durch das Vereinigte Königreich einer „richtungsweisenden