Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Blake
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783534746316
Скачать книгу
jedoch die moralische Struktur von Bürgerrechten misszuverstehen. Zunächst erscheint es schlicht falsch, zu denken, dass jede Person ein Recht auf den maximalen Umfang von Möglichkeiten hat. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass ein bestimmtes Land vor der Wahl steht sich zu industrialisieren oder weiterhin eine landwirtschaftliche Lebensweise zu pflegen. Auch wenn ich nicht sagen kann, wie in einem solchen Falle zu entscheiden wäre, sehe ich es als unwahrscheinlich an, dass dabei allein die Quantität der Möglichkeiten eine Rolle spielen sollte. Die Tatsache, dass mit der Industrialisierung mehr Möglichkeiten für die persönliche Lebensführung einhergehen, stattet uns daher nicht mit hinreichenden Gründen dafür aus, ein mögliches Ausbleiben der Industrialisierung als ungerecht zu bezeichnen.

      Was stattdessen zählt, ist nicht der Umfang an Möglichkeiten, sondern warum sie eben diesen Umfang besitzen. Nehmen sie beispielsweise Belgien. Sollten sich die Vereinigten Staaten tatsächlich in kleinere Einheiten aufteilen, jede von ihnen bewacht von Menschen mit Schusswaffen, wäre ich ebenfalls der Meinung, dass es sich hierbei um einen eher ungerechten Vorgang handelt. Aber der Grund für dieses Urteil hat rein gar nichts mit der Frage zu tun, ob die Möglichkeiten der persönlichen Lebensgestaltung in Belgien angemessen sind. Stattdessen ist ausschlaggebend, dass es einem Staat nicht gestattet ist, seine Bevölkerung so zu behandeln, wie die Regierung der Vereinigten Staaten die auf amerikanischem Boden anwesenden Personen behandelt, und diese Personen dann zugleich davon abzuhalten, sich frei auf eben jenem Boden zu bewegen. Wenn wir die Rechtfertigung der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit stärker als die Rechtfertigung eines Bürgerrechts verstehen, was Oberman nicht zulässt, dann besteht die Ungerechtigkeit darin, dass die mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten persönlicher Lebensgestaltung auf den Umfang belgischer Optionen reduziert wurden und zugleich seitens des Staates darauf bestanden wird, mich von der Hauptstadt aus zu regieren. Adam Hosein hat ein ähnliches Argument vorgebracht: Im Hinblick auf innerstaatliche Bewegungsfreiheit ist nicht die Bewegungsfreiheit als solche von Bedeutung, sondern wie die Art der Einschränkungen dieser internen Bewegungsfreiheit vom Staat dazu genutzt werden könnte, Bürgerinnen ungerechtfertigterweise ungleich zu behandeln.47 Um Obermans Beispiel abzuwandeln: Sollten die Vereinigten Staaten in eine Vielzahl souveräner Territorien von der Größe Belgiens aufgeteilt werden, jedes von ihnen geschützt durch Stacheldraht und bewaffnete Grenzposten, würde ich das bedauerlich finden. Aber meine Reaktion auf diesen Fall wäre eindeutig eine andere, wenn die Vereinigten Staaten sowohl das Recht für sich beanspruchen würden, mich mittels Zwangsgewalt zu regieren, als auch meine Bewegungsfreiheit auf amerikanischem Boden einschränkten. Der erste Fall scheint mir bedauerlich, aber nicht in sich ungerecht. Im Gegensatz dazu erscheint mir der zweite Fall tatsächlich als ungerecht. Wenn die Regierung der Vereinigten Staaten das Recht beansprucht, mich zu regieren, so kann sie dies nicht gerechterweise beanspruchen, während sie mich an der freien Bewegung innerhalb der USA hindert.

      Ich denke, dass ähnliche Erwägungen auf die Überlegungen zur Religionsfreiheit zutreffen. Oberman und ich stimmen darin überein, dass ein Verbot der jüdischen Religion moralisch falsch wäre. (Tatsächlich denke ich, dass es sich hierbei um einen der bereits im vorherigen Kapitel erwähnten grundlegenden Orientierungspunkte handelt.) Die Rechtfertigung dieser Behauptung aber hat weit weniger mit der Zahl mir verfügbarer Religionen zu tun, als mit der Historie staatlicher Versuche, manche Bürgerinnen als moralisch minderwertig im Vergleich zu ihren Mitbürgerinnen zu behandeln. Ich denke, es besteht ein Recht darauf, dass die eigenen religiösen Überzeugungen als ebenso moralisch bedeutsam anerkannt werden wie diejenigen der Mitbürgerinnen, und dass daraus ein Recht auf Religionsfreiheit erwächst. Es ist folglich in der Tat ungerecht, wenn ein Staat eine bestimmte Religion verbietet – allerdings beruht diese Ungerechtigkeit darauf, wie der Staat uns in diesem Fall im Vergleich zu unseren Mitbürgerinnen behandelt. Auch hier besteht die Frage nicht darin, wie groß der Umfang an Optionen hinsichtlich des eigenen religiösen Glaubens ist; sie besteht darin, wie und warum ein mit Zwangsgewalt ausgestatteter Staat eine Option aus der Auswahl entfernt.

      Anders ausgedrückt: Religiöse Intoleranz kann durchaus verurteilt werden ohne dabei annehmen zu müssen, dass ein Recht auf den größtmöglichen Umfang von Optionen hinsichtlich der Wahl der eigenen Religionsgemeinschaft besteht. Das genannte Beispiel ist jedoch auch in anderer Hinsicht lehrreich. Aus der Religionsfreiheit wird oft ein Recht auf Freiheit vor staatlichen Eingriffen in die Ausübung der jeweiligen Religion abgeleitet. Allerdings folgt aus der Religionsfreiheit im Allgemeinen kein Recht auf die für diese Ausübung notwendigen Mittel, oder auf die Mitwirkung von Personen, deren Beitrag für diese Ausübung notwendig erscheinen mag. Wenn meine Religion beispielsweise von mir verlangt, eine kostspielige Pilgerreise auf mich zu nehmen, ist nicht direkt ersichtlich, warum die Idee der Religionsfreiheit den Staat dazu verpflichten sollte meine Reise zu finanzieren.48 Wenn mein Gottesdienst eine Minjan von zehn Leuten verlangt, aber bloß neun Personen Teil meiner religiösen Gemeinschaft sind, kann ich nicht dem Staat gegenüber darauf bestehen, mich mit der zehnten Person zu versorgen, sei es durch Einwanderung oder (vielleicht) Anreizen zur Konversion. Die Freiheit der Religionsausübung umfasst kein Recht auf die Nutzung fremder Körper oder Ressourcen.

      Diese Überlegungen sind im Hinblick auf die Analyse der Religionsfreiheit wohl nicht übermäßig umstritten. Meiner Meinung nach sollten wir uns ihrer allerdings auch in der Diskussion über Migration bewusst sein. Oberman klingt an vielen Stellen so, als wären Migrationseinschränkungen ebenso zu betrachten wie Fälle, in denen die Ausübung einer Religion durch den Einsatz von Zwangsgewalt verhindert wird. In meinen Augen handelt es sich jedoch beim Ausschluss von Migrantinnen um eine komplexere Angelegenheit, weshalb er in manchen Fällen eher mit der Verweigerung verglichen werden sollte, einen bestimmten Vorteil zu gewähren. Wenn eine Person in ein anderes Hoheitsgebiet einwandert, erschafft sie – wie ich in Kapitel vier zeigen werde – neue Formen der Verpflichtung aufseiten derjenigen, die bereits in diesem Hoheitsgebiet leben. Möchte eine Person ein Hoheitsgebiet betreten, ist damit weit mehr verbunden als schlicht die Überquerung einer Linie auf dem Boden; vielmehr versucht sie durch ihren Grenzübertritt, neue Verpflichtungen aufseiten der bereits dort lebenden Bürgerinnen zu etablieren. Sie vom Grenzübertritt abzuhalten könnte daher in manchen Fällen am besten analog dazu verstanden werden, einer Person die für die Ausübung ihrer Religion notwendigen Mittel zu verweigern, statt analog dazu, ihr diese Ausübung mittels Zwang zu verwehren. Während wir zuweilen verpflichtet sind, solche Mittel bereitzustellen, muss doch jeweils gezeigt werden, warum dies der Fall sein sollte. Ein solcher Nachweis ist durchaus möglich. So denken viele von uns, dass, um einen aktuellen Fall aufzugreifen, die Hersteller von Hochzeitstorten ihre Dienste sowohl für hetero- als auch homosexuelle Hochzeiten zur Verfügung stellen sollten.49 Aber auch hier muss das Argument Bezug auf eine Idee wie die der Gleichheit vor dem Staat nehmen. Im Falle der Hochzeitstorten kann daher vorgebracht werden, dass eine solche Verweigerung aufseiten der Bäcker zur Stigmatisierung homosexueller Beziehungen beitragen würde. Allerdings findet sich in dieser Überlegung nichts, was ein Menschenrecht auf eine Hochzeitstorte begründen würde. Sollten alle Bäcker auf einen Schlag aus den Vereinigten Staaten verschwinden, würden keinerlei Rechte verletzt. Wir können daher folgern, dass die Religionsfreiheit auch ohne ein Recht auf den größtmöglichen Umfang von Optionen verteidigt werden kann – oder, wie in diesem Fall, ohne ein Recht auf eine Hochzeitstorte.

      Ein letzter Punkt: Oberman nennt als Grundlage seiner Zurückweisung eines Rechts auf Ausschluss bestimmte Interessen wie „[das] Treffen persönlicher Entscheidungen und politisches Engagement“. Selbst wenn ich dazu bereit wäre, die erstgenannte Art von Interessen zu akzeptieren, muss ich doch zugeben, dass mich die zweite Art etwas irritiert. Um es einfach auszudrücken: Politik ist kein spaßiger Zeitvertreib und existiert auch nicht allein für das eigene, private Selbstverständnis, sondern beinhaltet notwendig den Einsatz von Zwang gegenüber anderen. Um Cheshire Calhoun zu paraphrasieren: Meine politischen Überzeugungen sind von anderer Art als meine persönlichen Überzeugungen; sie sind Überzeugungen im Hinblick darauf, was wir sein sollten, und nicht im Hinblick darauf, was ich sein sollte.50 Diese unterschiedlichen Arten von Überzeugungen im Kontext der Migration als gleichwertig zu betrachten scheint in meinen Augen zu einer für das Problem ungeeigneten Lösung zu führen. Migration bedeutet, wie Kukathas schreibt, in einer neuen Gesellschaft „anzukommen, zu bleiben und teilzuhaben“. Warum sollten wir ein Recht auf all das haben, wenn der Zweck solchen Handelns in