Proud seufzte. Oh ja, das hatte Kyle wirklich. Sie alle wussten das, versuchten, Verständnis aufzubringen und die Hoffnung nicht zu verlieren. Vor allem Logan tat, was er konnte, um Kyle irgendwie wieder zurückzuholen. Nicht nur physisch, sondern vor allem seelisch den alten Kyle wiederherzustellen. Proud war sich nicht sicher, ob das überhaupt noch möglich war. Sie alle hatten einen hohen Preis bezahlt, Beth womöglich den höchsten, aber Kyle folgte ihr dicht auf.
»Da ist … noch etwas«, brachte sich Gilles wieder in Erinnerung.
Bitte nicht, dachte Proud. Nicht noch mehr schlechte Nachrichten. Aber was konnte an diesem Tag noch schlimmer werden?
Wortlos reichte Gilles ihm einen kleinen Fetzen Papier, der an den Rändern deutlich verkohlt war. »Den hier habe ich im Kamin in Mr. Kyles Zimmer gefunden.«
Was auch immer für eine Nachricht auf dem ursprünglichen Papier gestanden hatte, sie würden es wohl nie erfahren, es sei denn, er prügelte es auch Kyle heraus. Aber von wem die Notiz stammte, stand außerfrage, denn die Handschrift war Proud durchaus bekannt. Er hätte das schwungvolle M überall wiedererkannt. M wie MAGNUS.
Rahul kämpfte darum, wieder an die Oberfläche zu kommen. Den Schlaf zu verlassen. Doch jedes Mal, wenn er die Realität nahen spürte, warf ihn etwas wieder zurück. Verdammt, was hatte Veer in den Tee getan? Konnte er niemandem mehr trauen? Hatte er sich und Zeyda in eine Falle gebracht?
Er spürte ihre Unruhe, ihre Angst. Hörte sie wimmern, was unzählige Horrorvisionen in ihm auslöste. Waren Grigori in der Nähe? Oder spielten ihm seine Sinne einen Streich?
Er musste aufwachen. Er musste Zeyda retten.
Ihr Wimmern wurde lauter. Angst schwang darin mit. Dann Panik. Sie litt Schmerzen. Was passierte da nur?
Von einer Sekunde zur anderen fielen die Fesseln von ihm ab, die ihn in Morpheus’ Armen hielten. Rahul fuhr hoch, die Muskeln angespannt, bereit zum Kampf. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und er war willens, jeden zu töten, der Zeyda etwas antun wollte. Aber was er sah, war … nichts.
Sie lagen immer noch in Veers Wohnzimmer auf dem Diwan. Zeyda schlief friedlich neben ihm. Rahul musste einige Male blinzeln, weil die Sonne ihm direkt ins Gesicht schien. Wenigstens war es noch nicht wieder Nacht. »Du hattest einen Albtraum. Darum hab’ ich die Wirkung meines Schlaftrunks aufgehoben.«
Rahul wirbelte herum, hinter ihm stand Veer. Seine Miene war weder schuldbewusst noch besorgt.
»Du brauchtest Ruhe und Erholung. Wie es scheint, konnte ich dir beides nur bedingt verschaffen. Das macht es nicht leichter.«
Der Alte wandte sich um und winkte Rahul, ihm zu folgen. Mit einem letzten Blick auf Zeyda, die noch immer friedlich schlief, kam Rahul der Aufforderung nach.
»Weshalb hatte ich das Gefühl, Zeyda sei in Gefahr? Ich habe sie wimmern hören.«
Veer nickte verstehend. »Ihr habt einiges mitgemacht und die Zukunft, die vor euch liegt, ist ungewiss. Es fehlt dir an Vertrauen. Das kann ich gut verstehen.«
Der Händler begann, in seinen Regalen Dinge zu verschieben, Kästchen zu öffnen und Etiketten zu studieren, als suchte er nach etwas bestimmtem.
»Deine Gefährtin hat eine besondere Gabe. Sie ist eine Seherin unter den Nephilim. Manche von ihnen blicken in die Vergangenheit, andere in die Zukunft, aber was Zeyda sieht …« Veer wog den Kopf von rechts nach links. »Da ist eine Verbindung in ihr. Es muss sich noch zeigen, ob zum Guten oder zum Schlechten.«
Verunsichert rieb sich Rahul über die Arme und warf immer wieder einen Blick nach hinten in den Wohnbereich.
»Sie ist in Sicherheit«, betonte Veer beinah beiläufig, und es war ihm nicht anzumerken, ob Rahuls plötzliches Misstrauen ihn verletzte. »Solange ihr hier bleibt, werden sie euch nicht finden. Morgen Nacht seid ihr schon auf dem Weg nach L.A. Ich habe eine gute Freundin um Hilfe gebeten, ihr Name ist Kizmet, sie wird alles Nötige arrangieren.«
Irritiert schüttelte Rahul den Kopf. »Veer, was redest du da? Sobald es dunkel wird, werden die Grigori zurückkommen. Wir sind ihnen um Haaresbreite entkommen. Sie werden nicht lange brauchen, um unsere Spur wiederzufinden.«
Der Alte drehte sich zu ihm um und zeigte ein verschwörerisches Grinsen. »Warte nur ab. Du wirst erstaunt sein, wenn sie kommen.«
Noch ehe Rahul fragen konnte, was Veer damit meinte, stieß sein Freund einen kleinen Freudenruf aus. »Na, wer sagt es denn? Da ist es ja.«
Er zog eine kleine, verstaubte Kiste aus einem der untersten Regale hervor und stellte sie andächtig auf seinen Verkaufstresen. Erst jetzt bemerkte Rahul, dass Veer seinen Laden heute nicht geöffnet hatte. Was ging hier vor?
»Komm, sieh es dir an«, forderte Veer, während er sich an den Scharnieren der Kiste zu schaffen machte. Sie gab ein ächzendes Geräusch von sich, während er den Deckel zurückklappte. Darunter kam eine unscheinbare Kugel zum Vorschein, deren Oberfläche matt und korrodiert wirkte wie altes Kupfer. Man konnte einige Zeichen erkennen, die Rahul so noch nie gesehen hatte. Außerdem schien das Gebilde nicht aus einem Stück zu bestehen, sondern aus vielen winzigen, trapezförmigen Plättchen zusammengesetzt. Er hatte keine Ahnung, was das war oder wozu es dienen sollte. Umso seltsamer kam es ihm vor, dass sein Freund das Ding so ehrfürchtig wie den heiligen Gral behandelte.
»Dieses Artefakt … Es ist … viele tausend Jahre alt. Ich möchte, dass du es mitnimmst.«
»Was … ist es?«, fragte Rahul. »Was soll ich damit?«
Veer schüttelte bedeutungsschwer den Kopf. »Du kannst gar nichts damit tun, mein Freund. Leider. Es wird nur einen geben, der es in diesem Krieg einsetzen kann. Dir obliegt lediglich die Aufgabe, es seinem wahren Besitzer zu übergeben. Die Wahl triffst du allein, daher wähle weise. Es gibt keine zweite Chance, aber wenn alle Hoffnung zu schwinden scheint, kann dieses Artefakt zum Zünglein an der Waage werden und das Ruder zum Guten wenden. Oder zum Bösen. Das wird die Zeit zeigen – und dein Instinkt.«
Rahul schluckte. Es gefiel ihm nicht, was Veer da sagte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, diese Kugel anzunehmen. Gleichzeitig ergriff die Gewissheit von ihm Besitz, dass er diese Verantwortung nicht ablehnen konnte.
Veer drehte sich zu ihm um und sah ihm ernst in die Augen. »Verwahre sie gut. Verbirg sie, so lange du kannst. Erst, wenn du sicher bist, den gefunden zu haben, für den sie bestimmt ist, darfst du sie preisgeben. Dann hält er die Macht in den Händen, das Urböse zu vernichten.«
»Und wenn … ich sie dem Falschen gebe?«
Veers Ausdruck wurde undurchdringlich. Sein Blick ging in weite Ferne. »Dann … werden wir alle untergehen.«
Kapitel 4
Angespannt ließ Proud den Blick durch den Raum schweifen. Samuel van Vaughn hatte ihnen zwar gesagt, dass die Nephilim ihren Weg zurück nach L.A. finden würden, sobald sie erweckt wurden, aber Hölle noch mal, es war nie die Rede davon gewesen, dass sie sich alle in seinem Wohnzimmer tummeln mussten. Wann hatte sich dieses Gerücht verbreitet, dass er ihr Retter sein würde? Ihre Anlaufstelle? Wie kamen sie nur darauf, dass er Antworten auf alle Fragen hatte, die mit dieser Scheißprophezeiung in Verbindung standen?
Gerade nach letzter Nacht konnte er das überhaupt nicht brauchen. Eine Mütze voll Schlaf wäre ihm lieber gewesen. Oder zumindest ein paar Stunden Ruhe zum Nachdenken. Die Situation überforderte ihn maßlos und er hätte demjenigen, der dafür verantwortlich war, liebend gern in den Arsch getreten. Vermutlich dieser Eloy. Der hatte schließlich schon Haley und Ethan zu ihm geschickt. Oder war Kyle der Grund dafür? Immerhin hatte er vorgehabt, die gefundenen Nephilim zu Proud