Ich bin ein japanischer Schriftsteller. Dany Laferriere. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dany Laferriere
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783884236291
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Beben. Ein Typ griff sich das Mikro und schwang eine Rede über den Ölpreis auf dem Weltmarkt. Ein anderer sprach über die Hungersnot in Afrika. Wir waren wieder in den 70ern mit ihren geistigen Höhenflügen. Einer wollte über das sensationelle Formel-1-Rennen an diesem Nachmittag reden. Er wurde zum Schweigen gebracht. Er konnte gerade noch brüllen, Ayrton Senna sei der beste Fahrer aller Zeiten. Da schrie die Mehrheit im Saal den Namen von Gilles Villeneuve, dem Sohn des Landes. Bühne und Saal waren nicht mehr zu unterscheiden. Eine Flut erhobener Arme, jeder forderte irgendwas. Das Double von Nina Hagen verlangte einen Kuss von der neben ihr Sitzenden, die ihrerseits aussah wie Suzanne Vega vor zwanzig Jahren. Die Welt der Doubles. Vega war in Begleitung. Der Typ schien zunächst beunruhigt, dann hocherfreut. Nina Hagen beugte sich zu ihr und küsste sie sanft auf das linke Auge. Der Saal war berührt, aber noch nicht befriedigt. Dann auf das rechte Auge – ebenso sachte. Wir hielten den Atem an. Das Phantasma der heterosexuellen Männer ist seit der Steinzeit unverändert. Nina Hagen grüßte in die Menge und machte Anstalten, sich hinzusetzen. Die Leute brüllten zum Protest. Hagen stand wieder auf, ließ sich aber viel Zeit. Sie hatte uns im Griff. Ein Kuss, das war nichts. Es kam nur auf die Bedeutung an, die man ihm gab. Das Double von Vega schien nun selbst das Warten beenden zu wollen. Aber Hagen hatte es nicht eilig. Wir wussten, es würde einen Kuss geben, aber wir wussten nicht, was danach kam. Der Typ an meinem Tisch kaute an den Fingernägeln. Hagen beugte sich hinunter und küsste Vega zuerst auf den Hals, dann auf die Augen. Jedes Mal schrie die Menge nach mehr. Hagen hielt jetzt den Kopf von Vega und schaute ihr tief in die Augen (man fragte sich, was die echte Nina Hagen und die echte Suzanne Vega gerade taten). Es war der längste Kuss im Sarajewo. Dieser Kuss dauerte, bis Vega sich wirklich geküsst fühlte, bis sie sich dessen vollkommen bewusst war. Sie riss die Augen auf, als die Zunge von Hagen ihre Zunge berührte. Der Blick von Nina Hagen war wütend und dominant. Der von Vega bettelnd und ergeben. Das war mehr als die Menge erwartet hatte. Während Hagen Vega küsste, hörte sie nicht auf, den Mann, der sie begleitete, anzuschauen. Bis er aufstand und hinausging. Die Menge sah ihm hinterher. Hagen küsste Vega immer noch, die als einzige das Weggehen ihres Freundes nicht bemerkt hatte. Nun war Hagen endlich bereit, von ihrem Opfer abzulassen. Es war zusammengesackt und schlief an ihrer Schulter. Schweigen im Saal. Der Mann kehrte zurück. Vega erwachte mit einem schelmischen Lächeln. Hagen grüßte in die Menge (die Kneipe war jetzt brechend voll). Das war Der Kuss, eine Produktion von Kuss Inc. Das Trio verließ die Kneipe unter dem Applaus der Gäste und den Blitzlichtern der Amateurfotografen. Die drei Kellnerinnen rannten in alle Richtungen.

      Der Japaner vor dem Eiffelturm

      Ich habe noch nie einen Fotoapparat besessen. Ich verstehe nämlich nicht genau, wozu man ihn braucht. Geht es um Fotos, die ich mir sowieso nicht ansehen werde, dann ist das eine unnötige Erfindung, denn ich habe schon einen, der sehr gut funktioniert. In meinem Schädel habe ich fünfzig Jahre lang Bilder gespeichert, von denen die meisten sich wiederholen, so dass sie das Gewebe meines Alltagslebens bilden. Es besteht aus lauter winzig kleinen, aufeinanderfolgenden Explosionen: ein elektrisiertes Leben. Man kann einwenden, diese Bilder gehörten nur mir und die anderen hätten keinen Zugang. Das stimmt nicht ganz, denn ich kann sie so genau beschreiben, dass sie am Ende vor ihren Augen vorbeiziehen. Besser noch, mir gelingt es, diese Bilder in Gefühle zu verwandeln. Ich kann einen Augenblick beschreiben, ohne die anwesenden Personen zu erwähnen, indem ich nur die Energie wiedergebe, die diesen Moment belebt. Auf einem Foto sieht man nur selten die Emotion, die den roten Faden der vor unseren Augen ablaufenden Geschichte bildet. Außer auf Geburtstagsfotos, wo man die gebannten Augen eines Kindes hinter den brennenden Kerzen erkennt. Sicherlich kann von einem vergilbten Foto manchmal ein nostalgischer Duft ausgehen, insbesondere wenn fast alle, die in das Objektiv schauen, bereits tot sind. Ich bewahre all diese Fotos in meinem Kopf auf, sie haben sich dort festgesetzt. Sie drängeln sich, jedes will im Vordergrund stehen. Bei dem Japaner, der unaufhörlich die Welt fotografiert, frage ich mich jedoch, sieht er sie überhaupt? Er sieht noch nicht einmal die beiden Motive richtig, die er fotografieren will: seinen Reisegefährten und die von ihm fast verdeckte Sehenswürdigkeit. Der Eiffelturm ist nur da, um zu zeigen, dass dieser Mensch eines Tages in Paris war. Aber wenn er dasselbe breite, unpersönliche Lächeln vor allen Sehenswürdigkeiten dieser Erde aufsetzt, vernichtet er das Erlebnis des Moments. Der Japaner wird dann genauso zeitlos wie der Eiffelturm. Man könnte denken, es ist der Eiffelturm, der sich hinter einem lächelnden Japaner fotografieren lässt.

      Björk, das Voodoo-Püppchen

      Die Menge schaute immer noch dem Trio von Kuss Inc. hinterher, die schon in Berlin, Paris, Mailand, Tokio, London, New York aufgetreten sind. Ich hatte kurz davor ihr Plakat in der Toilette des Sarajewo gesehen. Rom, Amsterdam und Sydney muss man hinzufügen. All diese Städte hatten Kuss Inc. schon vor Montreal gesehen, denn wir standen am Ende der Liste. Die Welt hat unzählige Handelswege, über die Menschen und Waren gekauft und verkauft werden. Früher waren das die Seidenstraße, die Route des Zuckers, die Route der Gewürze. Heute gibt es die Tour des Profitennis, des Golfs, der Umweltschützer und der mächtigen Staatschefs. Komplexe Netzwerke. Es ist nicht einmal mehr möglich, sich in der Natur zu verlieren – die Natur wird auf das Minimum beschränkt. Die Arbeiter haben ihre eigene Metrolinie. Die Linie, die vom Arbeiterviertel zur Fabrik und zurückführt, ist immer die gleiche. Fünfzig Jahre lang Hin- und Rückfahrt, und dabei immer die Aussicht auf dieselbe Landschaft. Kuss Inc. folgt den Modeschauen auf ihrer Tour, dicht hinter den Rockstars, die gerne Models heiraten möchten. Kuss Inc. mischt sich nicht in die Szene der Rockstars oder von Kate Moss, bleibt aber doch in ihrer Nähe, um die Krümel aufzusammeln. Die große planetarische Welle der Mode und der Musik zieht in ihrem goldenen Kielwasser eine Menge bunter, lebhafter, cooler, nicht angepasster Leute hinter sich her, die bei dem kleinsten Zeichen ihrer Anführer bereit sind, vom Café Sarajewo ins Stadion weiterzuziehen, wo heute Abend Björk gastiert. Björk hätte auch im Café Sarajewo auftreten können. Was für ein Plakat: Björk im Sarajewo! Kuss Inc. als Vorgruppe von Björk. Dazu hätten einige günstige Umstände zusammentreffen müssen. Etwa, dass Björk einen Tag früher gekommen wäre, weil sie unbedingt die große Ausstellung über Voodoo im Musée des Beaux Arts in Montreal sehen wollte. Die großen Meister der haitianischen Malerei. Malende Bauern, die André Malraux einst feierte. Dies war die erste große Ausstellung außerhalb Haitis nach einer Schau in den 50er Jahren, die in den Privaträumen des Ehepaars Mellon in Manhattan stattfand. Björk ist vom Voodoo fasziniert. Als sie klein war, hatte ihr jemand eine Voodoo-Puppe geschenkt. Björk hatte sich mit der Puppe identifiziert, sie hielt sich selbst für ein kleines schwarzes Mädchen, das seine Puppe verstecken musste, weil es keinen Spaß haben durfte. Björk sprach mit der Puppe und die Puppe antwortete. Man braucht nur das maskenhafte Grinsen von Björk zu sehen, um zu wissen, dass man keine kleine, saubere, brave Isländerin, sondern ein blutgetränktes Voodoo-Püppchen vor sich hat. Das Püppchen hat den Platz der kleinen Björk eingenommen. Björk ist seither nicht mehr gewachsen. Björk, das Püppchen, will nun unbedingt die Ausstellung sehen und die Voodoo-Maler kennenlernen. Alle diese Maler wurden in den 40er Jahren entdeckt. Wie kommt es, dass sie immer noch am Leben sind? Der stechende Blick der Puppe durchdringt das Dunkel. Beim Blättern in einer Zeitschrift stößt sie auf die Anzeige mit der Ausstellung von Montreal. War sie in diesem Moment in Paris, London, New York, Berlin (Berlin, nicht zu vergessen) oder Rom? In einem Hotelzimmer? Ein Hotelzimmer ist universelles Territorium. Weiße Bettwäsche. Magische Zahl. Wenn Björk inkognito unterwegs ist, nimmt sie überall auf der Welt immer das Zimmer Nummer 17. Sie ruft ihre Managerin an, sie soll eine Show absagen, am besten Melbourne, damit sie rechtzeitig in Montreal ist, um die Ausstellung zu sehen. Die Managerin hält es für eine bessere Lösung, dass die Ausstellung für Björk verlängert wird. Sie telefoniert sofort mit Montreal. Sie muss nur den Namen Björk aussprechen, und man verbindet sie mit dem Kurator des Musée des Beaux Arts von Montreal, der sich gerade auf den Bermudas in der Sonne aalt. Der Kurator ist „tief gerührt“. Ein Anruf von Björk, oder von ihrer Managerin, aber in Björks Auftrag. Er ist ein Groupie, eigentlich nicht er, eher seine Gattin, oder nicht seine Gattin, eher seine Tochter. Der Kurator gerät ins Stottern und verhaspelt sich. Die Managerin am anderen Ende ist amüsiert. Es erstaunt sie immer wieder, dass das winzige Frauchen auch einen profunden Kenner der Moderne aus der Fassung bringen