Ich bin ein japanischer Schriftsteller. Dany Laferriere. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dany Laferriere
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783884236291
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einen dicken Mantel aus Papier „gegen die Nachtkälte“, ein Cape aus Stroh gegen den Regen und einen Yakata aus Baumwolle. Da er Schriftsteller ist, steckt er noch die Schreibmappe mit Pinsel und Tusche in seinen Sack. Selbst das Unverzichtbare ist zu schwer. Man braucht nur sich selbst, wenn möglich nackt. Ich hatte die Gedichte von Bashô auf einer Zeitung entdeckt, in die Reis eingewickelt war. Seither suche ich überall nach seinen Spuren. Wenn ich eine Buchhandlung betrete, schaue ich zuerst nach, ob es etwas von oder über Bashô gibt. Dieser Mann hat ein echtes Gespür für die Emotion. Er ist dickköpfig. Nichts zwang ihn dazu, in seinem Alter noch eine solche Reise zu unternehmen, aber keiner konnte ihn zurückhalten, als er entschieden hatte, fortzugehen. Sora begleitet ihn, um ihm die täglichen Verrichtungen abzunehmen. In der Morgendämmerung brechen die beiden auf. Wir begegnen ihnen in der Ebene von Nasu3 wieder. Der Regen zwingt sie, in einer Strohhütte zu schlafen. Bashô scheint in bester Form zu sein. Sein Element ist die Bewegung. Er bewegt sich gleichzeitig mit der Landschaft.

      Ich sitze in der Metro von Montreal und folge der Spur eines gewissen Matsuo Munefusa, genannt Bashô. Er wurde 1644 in Tsage geboren, einem Dorf in der Nähe von Ueno. Er bewunderte den Dichter Tu Fu. Bashô und Sora sind eben an der berühmten Grenzbarriere von Shirakawa angekommen, die alle alten Dichter mit Rührung erwähnen. Als sie später den Abukuma-Fluss überquert haben, entdecken sie zur Linken das Bandaï-Gebirge, „das mit seiner ganzen Höhe das Gebiet von Aizu überragt.“ Sie machen Rast bei einem Eremiten, der unter einem Kastanienbaum lebt. Bashô schrieb einen Haiku über die Kastanie, die ihn offenbar mehr beeindruckt hat als der Einsiedlermönch. Sie erinnerte ihn wohl an den Bananenbaum, der ihm seinen Namen gegeben hat. Bashô. Der Regen hält den ganzen Monat Juni an.

      Bashô bestimmt immer sorgfältig den Ort, wo er sich befindet, damit nach ihm andere Dichter denselben Weg gehen können. Das ist das große Spiel, das sich seit Jahrhunderten fortsetzt. Bashô will uns damit sagen, dass alle Dichter nur ein einziger sind, vom selben Atem beseelt. Diesen Weg, der für alle gleich ist, nimmt doch jeder auf seine Weise. Und zu seiner Zeit. Der Zug hatte gehalten, ohne dass ich es bemerkte. Ich sah gerade noch den Rücken von Isa in der Menge der Eilenden. Ein langer zerbrechlicher Hals. Ein trauriger Nacken (ich projizierte meine Traurigkeit auf ihren Nacken). Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

      2Bashô a. a. O., S. 43.

      3Bashô a. a. O., S. 69.

      4„über Burgruinen grünt … nur noch Gras“; Bashô a. a. O., S. 149 und 165; Anm. B. T.

      5Bashô a. a. O., S. 187.

      Der Kuss im Café Sarajewo

      Das Café Sarajewo kannte ich noch nicht. Dabei ist es gut gelegen, an einer Metrostation. Ich fahre lieber Metro als Bus. In der Metro sieht man Gesichter. Im Bus Landschaften. Ich lief die Treppe vom Schacht hoch und ging nach links, in das Café. Gute Atmosphäre. Jede Kleinstadt hat mindestens ein Café dieser Art. Alle, die einmal die Musik von Joan Baez mochten, kommen irgendwann hierher. Es sind die Leute, die vom Radar verschwunden sind und du fragst dich, wo sie sich vergraben. In Kneipen wie dem Sarajewo. Ich erwartete nicht, hier Joan Baez zu treffen. Nicht einmal Suzanne Vega. Das Rad hat sich weitergedreht. Ich war wegen Midori hier, der neuen japanischen Sängerin, die sie manchmal auf dem Videokanal Much Music bringen. Ich kannte noch nicht einmal ihren Namen. Seitdem der Koreaner ihn mir zugesteckt hatte, hörte ich überall von ihr. Was, Sie kennen Midori nicht? Ihre Plakate hingen in den Toiletten der Bars. Schwer zu sagen, wie sie wirklich aussah, denn unter Wasser war ihr Gesicht etwas verformt. Sie hält den Atem an. Der Fotograf wartet bis zur letzten Sekunde. Gleich wird sie platzen. Die Augen aufgerissen von beginnender Todesangst. Die rosigen Nasenflügel ganz durchsichtig. Der Hals verdickt. Klick. Der Oberkörper schnellt aus dem Wasser. Das Wasser läuft ihr aus Mund, Nase und Augen. Überall im Stadtzentrum flüsterte man nur einen Namen: Midori. In allen Sprachen. Der erste japanische Star von Montreal. Die Rakete Midori fliegt auf den Planeten Björk zu. Björk – ein gedämpfter Laut. Wie ein Geräusch im Wasser.

      Bashô notiert:

       Der alte Teich

       Ein Frosch springt hinein –

      ein Plop im Wasser.

      Midori ist ein flacher Gegenstand mit so scharfen Kanten, dass sie einen Hals durchtrennen könnte und der Kopf fiele erst nach ein paar Sekunden. Eine Kette roter Perlen. Midori wetzt im Sarajewo ihre Waffen. Ich setzte mich in die dunkelste Ecke. Die Kellnerin kam erst nach einer halben Stunde. Grüner Tee. Das Café war immer noch leer. Plötzlich Joan Baez. Man sollte Joan Baez nur in einem Café wie dem Sarajewo hören. In einem solchen Laden könnte ich Joan Baez hören bis ans Ende meiner Tage. Danach kam Leonard Cohen mit Suzanne, das Lied beschreibt das Montreal der 70 er Jahre, zwischen Leidenschaft und Leichtigkeit. Ich kannte also bereits den Geschmack der Kellnerin – eine kleine Braunhaarige mit einem Ring in der Nase und lebhaften Augen. Ich kehrte zu Bashô zurück. Ich reise gerne, aber ich zögere vor dem Aufbruch. Wo soll ich hinfahren? Reisende kehren irgendwann zurück, sonst sind sie keine Reisenden. Am besten, man bleibt in seinem Zimmer und wartet auf ihre Rückkehr. Allmählich trudelten die Gäste ein. Sie setzten sich an den Rand. Die Mitte blieb leer. Die gerne im Zentrum stehen, würden später eintreffen. Wer nicht so früh kommt wie ich, denkt vielleicht, der Raum füllt sich in einer halben Stunde. Wer viel in kleinen Cafés verkehrt, weiß, es ist nicht so einfach, wie es aussieht. Die Gäste werden an den Fingern abgezählt. Die Kellnerin rief den Besitzer an und fragte, ob sie eine oder zwei weitere Bedienungen herbestellen sollte. Warum denn? Es sind schon fünfzehn Gäste da. Wie viele sind es normalerweise um diese Zeit? Sieben. Woran siehst du, dass es voll wird? Da ist auch ein Neuer, er hat einen grünen Tee bestellt. Grünen Tee, du meinst aus dem wird ein richtiger Gast? Bestimmt. Was meinst du also? Zwei weitere. In Ordnung, du bist schließlich vor Ort. Sie legte auf, dann drehte sie sich mit einem breiten Lächeln zu mir um. Ich wagte nicht, noch einen Tee zu bestellen, aus Angst, dass dann eine dritte Bedienung kommen müsste. Ich eilte zur Toilette. Alles schwarz, sogar die Kacheln. Ein echtes Boudoir. Die Aushänge sagen viel über die Kundschaft einer Kneipe aus. Sie zeigen ihren Geschmack. Es war eine Musikerkneipe. Die Aushänge erzählten alles. Neben einem Chorprogramm mit mittelalterlichen Liedern befand sich eine Adresse für Akupunktur bei Rückenschmerzen. Yogakurse. Eine Gruppenreise nach Indien zu diesem oder jenem Meister. Dazu verschiedene Poster von Midori. Dies war Midoris Zuhause. Was Charles de Gaulle für Air France, der Flughafen New York für American Airlines oder Rom für Alitalia, war das Café Sarajewo für Midori. Ein Poster zeigte sie nackt – aber verschwommen. Man sah sie nie deutlich. Schmaler Körper, gerade Hüften, keine Brüste. Ihr Geschlecht war glattrasiert. Stark gewölbt. Ich blieb lange vor Midoris Geschlecht stehen. Dann ging ich zurück. Der Saal war voll. Ein Boxring. Auftritte. Ein Mädchen,