Ich bin ein japanischer Schriftsteller. Dany Laferriere. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dany Laferriere
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783884236291
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lebendig. Bekannt ist die Vorliebe der Hand für längliche Gegenstände von schwarzer Farbe. Wie können wir in das Innere des Gegenstands dringen? Ist es eine Frage des Volumens oder der Oberfläche? Jedenfalls bereitet uns das Darüberstreichen Genuss. Jeder Gegenstand enthält in seinem Kern einen winzig kleinen Gegenstand von gleicher Gestalt. Ein Objekt im Inneren des Objekts. Sein trockener Kern. Leer. Ein Sprung durch den Raum. Die Tropen. Mein Blick ist von der tropischen Frucht geprägt: rund, farbig, duftend und essbar. Sie enthält ebenfalls einen Kern. Eine Frucht, die wir uns einverleiben können, verliert aber etwas von ihrem Geheimnis. Hingegen können wir bei einem Objekt nicht unter die Oberfläche dringen. Das Objekt dringt in uns ein, während wir sein Inneres nicht berühren können. Es bleibt so abweisend wie ein Samurai. Um uns herum haben sich inzwischen so viele Gegenstände angehäuft, dass sie uns die Illusion einer warmen Beziehung vermitteln. Wir achten nicht mehr darauf, dass sie da sind. Wir ziehen uns vor ihnen aus, ohne rot zu werden. Wir essen vor ihnen. Wir schreien uns vor ihnen an. Wir vögeln vor ihnen. Unaufhörlich werden Gegenstände fabriziert, die am Ende unser Leben gestalten. Die Menschen benutzen immer häufiger Objekte, um sich gegenseitig zu berühren. Dass Objekte bereits unser Sexleben beherrschen, ist nicht mehr zu leugnen – die Notaufnahmen der Krankenhäuser sehen so einiges. Japan stellt wie wild funktionslose, schöne Objekte her. Mit welchem Ziel? Sollen wir uns in sie verlieben? Steht dahinter ein großer Plan? Sollen die neuen Objekte, die auf uns niederregnen, irgendwann die Haustiere ersetzen? Wir sollten unsere Beziehung zur mineralischen Welt überdenken. Tier und Pflanze verlieren auf der emotionalen Ebene an Terrain. Ein Vorteil des Objekts ist, es altert nicht. Ich trage immer eine Kamera bei mir – das einzige Objekt, das sehen kann.

      Die Clique von Midori

      Nach dem Auftritt von Kuss Inc. folgte ich Midori und ihrer Clique zu einer Vernissage auf der Rue Sherbrooke, genau gegenüber dem Musée des Beaux Arts. Lauter Mädchen: Eiko, Fumi, Hideko, Noriko, Tomo, Haruki. Sie bilden den Hof der Prinzessin Midori. Dazu ein androgyner Fotograf namens Takashi – so flach, dass man ihn für ein Feuerzeug in der Hand von Kate Moss halten könnte. Midori fielen die großen Banner an den Säulen des Museums auf, mit der Ankündigung für die Ausstellung der naiven Maler.

      „Diese Ausstellung würde ich gerne sehen.“

      „Hast du in der Zeitung nicht gelesen, was mit Björk passiert ist?“, fragte Hideko. Sie kam dabei Midori so nahe, dass sie ihr Ohr berührte.

      Alle in der Gruppe wussten, wie empfindlich Midoris Ohr ist, es ist der Sitz all ihrer Empfindungen.

      „Mach das nie wieder, hörst du?“, Midori baute sich vor ihr auf. „Hideko, verstanden?“

      „Es war nicht mit Absicht … Wieso wirst du so sauer?“

      „Das stimmt, Midori“, bemerkte Fumi.

      Jeder ein wenig aufmerksame Beobachter wird schnell feststellen, dass an diesem Hof dieselben Intrigen ablaufen wie an jedem anderen. Midori war die Sonne, um die sieben abwechselnd frohe und traurige Planeten kreisten. Alle zusammen waren sie so froh und so traurig, dass ich mich fragte, ob ich sie je würde auseinanderhalten können. Man sah die Tränen nicht, die sie innerlich vergossen, aber man hörte das Manga-Lachen. Ich versuchte eine Weile, bei jeder Einzelnen ein besonderes Merkmal herauszufinden. Sie kreisten unaufhörlich, so dass ich sie nicht zu fassen kriegte. Denn sie bildeten eine Clique, von der man ein Mitglied nur betrachten kann, wenn es sich von ihr löst. Ich filmte sie in meinem Kopf. Mit einer leichten Schulterkamera. Ein kleiner Schwarz-Weiß-Film. Aus meinem Winkel, in sicherem Abstand und diskret. Ohne Schnitt. Dabei habe ich Gespräche, die ich nicht hören konnte, oder verborgene Gefühle einfach ergänzt. Das tun wir alle. Takashi würde am nächsten Morgen abreisen, für eine Reportage über Yoko Ono, die Midori nur die „Ewig Gestrige“ nannte. Aber alle wussten, dass er zurückkehren würde. Man entfernt sich am besten nicht zu lange von der Clique. Yoko Ono mag zierliche junge Männer, aber die „Mao-Witwe“, wie die kluge Eiko sie nannte, hatte keine Chance gegen Midori. „Ein frisches Talent“, so hatte der Schriftsteller Ryu Murakami Midori schon in einem langen Artikel im New Yorker bezeichnet, wo es um mögliche Nachfolgerinnen von Yoko Ono ging. Midoris Stimme erinnere an die ersten Graffiti von Basquiat in der New Yorker U-Bahn – krass und anspruchsvoll zugleich. Am nächsten Tag sollte das Duell zwischen Midori und Yoko Ono aus der Sicht von Takashi beginnen, der Yoko Ono fotografieren würde. Er hatte vor, möglichst viele Informationen über Yoko Ono zu sammeln, um sie an Midori weiterzugeben. Die Witwe wusste, dass sie unter Beobachtung stand. Alle jungen Japanerinnen versuchen, das Geheimnis von Yoko Ono zu lüften, nur um sie danach vom Thron zu stürzen. Yoko stellt die Göttin der Zwietracht dar. Die alle überlebt. Durch sie kann man lernen, dass Hass zuweilen langlebiger ist als Liebe. Takashi würde sich die Kniffe dieser Japanerin näher ansehen, die den Hass der Beatles-Fans überdauert hat. Yoko hatte Ryu Murakami in jenem berühmten Artikel des New Yorkers erklärt, dass sie sich immer „auf halber Höhe“ hält. Auf diese Art schützt man sich vor der Herde der mittelmäßigen, lauten Talente. Midori ordnet sich zwischen Björk und Yoko Ono ein. Murakami schrieb am Schluss seines Artikels, es gebe drei Arten von Künstlern: eine kleine Gruppe mit außergewöhnlichem Talent, eine sehr große Gruppe mit so viel Talent, dass sie überlebt, und – weit geringer an der Zahl, als man denkt – Leute von schlicht mittelmäßigem Talent. Da das Publikum sich für alles interessiert, was selten ist, mag es lieber einen mittelmäßigen Künstler mit einem guten Agenten als einen besseren aus der großen Gruppe mit einem ebenso guten Agenten. Ryu Murakami meint, in unserer Zeit liebt man das Seltene, selbst wenn es schlecht ist.

      Ein vergifteter Kuss

      Gerade spielte sich in der linken Ecke, am Fenster, ein Drama ab. Midori wusste nicht, was mit Björk passiert war. Da die Information das Herz der Macht ist, tut sie, als ob sie es wüsste. Man darf seine Karten nie zu früh auf den Tisch legen. Will man innerhalb des Zirkels bleiben, braucht man starke Nerven. Und man muss schweigen können. An Midori kam man nicht so leicht heran. Ich beobachtete eine ausgeklügelte Raumaufteilung. Die Mädchen flogen abwechselnd um Midori herum, wie Falter um eine Lampe. Hideko hätte sich vorhin fast die Flügel verbrannt. Sie war Midori zu nahe gekommen. Es gab kein Organigramm. Jede konnte sich selbst aussuchen, wo sie in der Hierarchie stehen und welche Risiken sie eingehen wollte, um diesen Platz zu verteidigen. Ein einziger erstaunter oder verächtlicher Blick von Midori und die Unvorsichtige befand sich außerhalb des Zirkels. So erging es Hideko, die den ganzen Abend ihren Platz zurückzugewinnen versuchte. Ihre letzte Chance war Tomo. Sie tuschelten lange miteinander. Zoom auf Tomo, die einer ausweichenden Midori davon berichtet. Tomo war Midoris Leibwächterin. Sie schlief am Fuß ihres Betts. Am Nachmittag ließ sie sich im YMCA an der Avenue du Parc zur Kämpferin ausbilden. Nahaufnahme von Takashis Gesicht. Er erzählt mir jedes Detail vom Leben in der Gruppe. Takashi schminkte sich leidenschaftlich gern, außerdem verschaffte ihm das überall Zutritt. Er verkehrte in beiden Welten. Tatsächlich gab es aber nur eine Welt, denn Männer wie Frauen reden über Frauen. Takashi fotografierte seit drei Jahren, was auf der Toilette der Mädchen vor sich ging. Schminken, Tratschereien, Tränen. Nackte Gesichter. Tomo lebte nur für Midori, die sie fast nie eines Blickes würdigte. Man schaut den nicht an, der einen ansieht. Tomo litt schweigend. Sie verteidigte Midori sogar vor sich selbst. Midori war eine Perfektionistin, die manchmal in Depressionen abglitt. Die anderen Mädchen wussten, dass sie in Tomos Anwesenheit nichts über Midori sagen durften. Takashi wies mich auf Fumi hin, die sich gerade eine Zigarette anzündete. Fumi war die Intelligenteste, sie sprach acht Sprachen fließend und hatte über Françoise Sagan promoviert. Sie hatte alles von Sagan gelesen und kannte ihren rasanten Lebensstil im Detail. Du wirst sehen, sagte Takashi zu mir, Midori wird Fumi nie vor allen angreifen. Fumi entwirft ihre Auftritte. Sie hat einen sprühenden Geist, aber sie kann auch sehr bösartig sein. Noriko kann dir mehr über sie erzählen. Wer ist Noriko? Die an die Wand gelehnt auf dem Boden sitzt. Hör zu, du wirst sie nicht nach dem ersten Treffen auseinanderhalten. Ich habe über eine Woche dazu gebraucht. Sehen sie sich nicht alle sehr ähnlich? Doch, außerdem sind sie ein Rudel: Man meint, sie zu unterscheiden, und dann verschmelzen sie plötzlich zu einer einzigen Person. Sie haben ihre Regelblutung zur gleichen Zeit. Noriko ist ziemlich interessant, das wirst