Auf dem Wasser laufen. Klaus-Dieter John. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus-Dieter John
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765575754
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also wieder auf sich selbst angewiesen? – Nein, ganz und gar nicht. Sie beteten erneut um eine Lösung. Und siehe da, sie nahte bald: in Gestalt eines Fahrrads.

      Ohne Umschweife sprach Constantino den Mann auf dem Sattel an: „Señor, würden Sie uns Ihr Fahrrad verkaufen?“

      „Wie viel wollt ihr bezahlen?“ Der Fremde zeigte sogleich einen überragenden Geschäftssinn. Und tatsächlich, nach einigen Minuten wurde man handelseinig, und der Drahtesel ging für 100 Soles in den Besitz von Constantino über.

      „Onkel, setze dich hinten auf den Gepäckträger, ich trete in die Pedale!“

      Hier waren nicht kleine Jungs dabei, sich die Zeit zu vertreiben, sondern zwei unterkühlte Männer wollten schlicht und ergreifend ihr Tempo verdreifachen. Zwar am Rande der Erschöpfung, aber mit einem eisernen Willen ausgestattet. Daniel kletterte etwas umständlich auf den harten Sitz und umklammerte mit beiden Armen seinen Vordermann.

      Wahrscheinlich gibt es nicht viele Europäer oder US-Amerikaner, die mit zweiundachtzig Jahren zu so einer Leistung fähig wären. Es hat schon etwas Tollkühnes an sich, nach einem nächtlichen Fußmarsch noch siebenunddreißig Kilometer auf einem wackeligen Zweirad zu bewältigen. Im modernen Sprachgebrauch bezeichnen die Psychologen so ein Durchhaltevermögen mit dem Fachwort Resilienz. Sie ist Teil unserer Persönlichkeitsstruktur. Christen kennen zudem noch eine übernatürliche Kraftquelle, die der Prophet Jesaja schon vor 2.750 Jahren beschrieben hat: „Doch die, die ihre Hoffnung auf den Herrn setzen, gewinnen neue Kraft. Sie schwingen sich nach oben wie die Adler. Sie laufen schnell, ohne zu ermüden. Sie gehen und werden nicht matt!“ Am Nachmittag um 14 Uhr rollten sie in den Ort Limatambo ein und entdeckten zu ihrer großen Freude ein Taxi rechter Hand auf einem Parkplatz.

      Wer völlig ausgelaugt ist, weiß die Segnungen eines Autos zu schätzen. Jetzt dauerte es nur noch eine weitere Stunde, bis sie erschöpft, aber heilfroh die Schwelle des Hospitals Diospi Suyana überschritten. Sie hatten immerhin einen zweiunddreißigstündigen Marathon von 125 Kilometern erfolgreich überstanden!

      Nach einer warmen Dusche und einer kräftigen Suppe kuschelte sich Daniel in sein trockenes Krankenhausbett. Sie hatten es geschafft! Zwar waren sie mit einem Tag Verspätung am Ziel angelangt – aber wer hätte es über das Herz gebracht, dem leidgeprüften Daniel seine Operation zu verweigern?

      Dr. Brady wohl kaum. Er operierte die Leistenbrüche am nächsten Vormittag und entließ seinen Patienten am Freitag derselben Woche aus der stationären Behandlung. Und: Weder Daniel noch Constantino bekamen einen grippalen Infekt. Sie dankten Gott für die Bewahrung und machten sich fröhlich auf den Heimweg. Der verlief ohne Hindernisse oder sonstige Schwierigkeiten, denn der Streik hatte am Dienstagabend geendet.

      Das, was der alte Daniel auf sich nahm, um unter allen Umständen im Hospital Diospi Suyana behandelt zu werden, ist bemerkenswert. Aber vier Fünftel unserer Patienten haben weite Anreisen hinter sich, bevor unsere Mitarbeiter die Krankengeschichte erheben. Sie lassen staatliche Krankenhäuser und Privatkliniken links liegen und stellen sich vor unserem Missionsspital in eine lange Schlange. Sie investieren Geld und Zeit, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich eine der begehrten Eintrittskarte erhalten werden.

      Der legendär gute Ruf von Diospi Suyana hat viele Gründe. In einem Land, in dem das Gesundheitssystem an Korruption und Inkompetenz leidet, haben über vierzig TV-Reportagen unser Krankenhaus als Erfolgsmodell gepriesen. Die Kombination aus Freundlichkeit, guten Behandlungsergebnissen und billigen Preisen erklärt so einiges, aber nicht alles. Aus meiner Sicht ist ein ganz wesentlicher Aspekt unser Glaube. Jeder Besucher unseres Morgengottesdienstes versteht, dass Diospi Suyana nicht an Gewinnmaximierung interessiert ist. Wir Mitarbeiter wollen vielmehr unseren Glauben an den Gott der Bibel auf praktische und liebevolle Weise leben. Mit Sachverstand und Leidenschaft zugleich. So wie Jesus es einmal ausgedrückt hat: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“

       Drama, Blut und Tränen

      Ich kann gut verstehen, warum die meisten Menschen Krankenhäuser am liebsten meiden. Sie erinnern uns an die eigene Vergänglichkeit und bringen uns zudem in Kontakt mit den Körperflüssigkeiten Blut, Urin und Tränen. Anders als bei Horrorfilmen, die man mit einem leichten Druck auf die Fernbedienung ausschalten kann, lässt sich der Klinikalltag nicht abstellen. Ekel und Grusel bleiben. Nicht nur der Laie erschaudert beim Anblick ausgemergelter Krebspatienten oder der schmutzig gelben Gesichtsfarbe eines Leberzirrhotikers. Auch der erfahrene Mediziner trägt die unangenehmen Eindrücke mit sich herum und nimmt sie am Abend mit ins Schlafzimmer.

      Und doch sind wir alle froh, dass es Spitäler gibt. Hier wird Leid gelindert und Leben verlängert. Und wir ahnen, dass auch wir selbst früher oder später Pflege brauchen werden. Auf einer Krankenstation umgeben von anderen bedürftigen Patienten.

      In den Bergen Perus haben die Quechuas nur einen sehr beschränkten Zugang zu einer guten medizinischen Betreuung. Deshalb ist es verständlich, warum Alte und Junge strapaziöse Reisen auf sich nehmen, um im Hospital Diospi Suyana behandelt zu werden. Daniel Ticona hatte überzeugende Gründe, als er die ganze Nacht durch den Regen lief, um unser Krankenhaus zu erreichen, Pablo Human hingegen war dazu nicht in der Lage.

      Seine 5 erwachsenen Kinder mussten ihren 55 Jahre alten Vater über die Schwelle ins Hospital tragen. Der Indianer aus Südperu litt an einem Aorten-Aneurysma, einer gefährlichen Erweiterung der Hauptschlagader des Körpers. Solche Aneurysmen sind tickende Zeitbomben. Schlagartig können sie platzen und innerhalb von Minuten den Tod durch Verbluten herbeiführen. In Pablos Fall hatte sich die Aussackung der Aorta mit Blutgerinnsel gefüllt, die gelegentlich wie Torpedos dem Blutstrom folgend große und kleine Blutgefäße der Beine verstopften. Der rechte Oberschenkel war bereits kalt und der Fuß schwarz. Auf der linken Seite sah es etwas besser aus, allerdings zeigte die abgestorbene Großzehe, dass akuter Handlungsbedarf bestand. Zu allem Übel hatte sich das tote Gewebe infiziert und eine allgemeine Blutvergiftung, also eine Sepsis, eingesetzt. Ein Herzinfarkt in der Vorgeschichte machte aus Pablo alles andere als einen guten chirurgischen Kandidaten. Wegen dieser Kombination von Risikofaktoren hatte sich bisher kein Chirurg vorgedrängt, um dem Kranken zu helfen. Die Erfolgschancen waren einfach zu niedrig.

      Als die Kinder ihren Vater vorsichtig im Sprechzimmer absetzten, schauten sie erwartungsvoll auf unseren Gefäßchirurgen Dr. Thomas Tielmann. „Doktor, bitte tun Sie etwas“, flehten ihre Augen, „wir wollen nicht, dass unser Vater vor die Hunde geht!“

      Dr. Tielmann erhob bei Pablo einen gründlichen körperlichen Befund und ordnete dann eine Reihe von Untersuchungen an. Schließlich teilte er der Familie seine Entscheidung mit: „Ich bin bereit, Ihren Vater zu operieren“, erklärte er, „aber ob er überleben wird, weiß nur Gott!“

      Aus einer spontanen Gefühlsregung heraus nahmen Pablos erwachsene Kinder den Missionsarzt in die Arme. Diese Geste drückte mehr aus als jedes Wort. Die Familienangehörigen schöpften wieder etwas Hoffnung und fühlten sich endlich verstanden und angenommen.

      Wann haben Sie das letzte Mal Ihren Hausarzt vor Dankbarkeit an sich gedrückt? Das ist wahrscheinlich schon eine Weile her. Pablo weinte, als Dr. Tielmann ein Gebet sprach und die nächsten Tage bewusst Gott anvertraute. Sein Leben würde zwar wortwörtlich auf des Messers Schneide liegen, aber nicht das Damoklesschwert des Zufalls hätte das finale Sagen, sondern Gott, der unser Schicksal in seinen Händen hält.

      Auch die Operation begann mit einem Gebet. Nach Eröffnung der Bauchwand unterbrach Dr. Tielmann mit einer großen Klemme, die er unterhalb des Abgangs der Nierenarterien ansetzte, den Blutfluss in der Aorta. Er schnitt mit umsichtigen Handgriffen das Aneurysma auf und nähte eine Rohrprothese aus Polyester ein. In einem zweiten Schritt entfernte er mit einem Ballonkatheter mehrere Thromben aus den Beckenarterien. Mit der verbesserten Durchblutung wurden die beiden Oberschenkel wieder warm. In der letzten Phase amputierte er den rechten Oberschenkel. Insgesamt dauerte dieser Hochrisikoeingriff vier Stunden. Er verlief erfolgreich und rettete ein Menschenleben. Langfristig ist daran gedacht, den Patienten mit einer Beinprothese zu mobilisieren. Gott sei Dank, dass es diese Möglichkeit gibt!

      Übrigens