Doch Matthias hatte angebissen. Jennifer war schon etwas ganz Besonderes, und für eine gute philosophische Diskussion war er ohnehin immer zu haben. Man verabredete sich gelegentlich, um der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Was hatte es mit Jesus Christus wirklich auf sich? Und war er allen Ernstes von den Toten auferstanden? Bald fing Matthias an, christliche Bücher zu lesen. C.S. Lewis, der berühmte Oxford-Professor, war einer der Autoren. Bestsellerautor Timothy Keller aus den USA ein anderer. Nach und nach tauchte der Hamburger in eine ganz andere Welt ein. Schließlich wurde er in eine Gemeinde von überzeugten Christen eingeladen. Es gab außer Jennifer offensichtlich noch andere, die fest mit Gott rechneten.
Nach seinem Referendariat nahmen die beiden eine Auszeit und besuchten eine christliche Lebensgemeinschaft in Südindien. Hier ließ sich der ehemalige Agnostiker und Skeptiker am 25. Dezember 2013 im Indischen Ozean taufen. Im darauffolgenden Jahr heirateten Jennifer und er.
Das Leben des jungen Paares verlief in unkonventionellen Bahnen. Im Herbst 2017 traten sie an einer Schule in Nepal ihren Dienst als Missionslehrer an. Sie wollten eine Lücke füllen, bis irgendwann einmal ein Langzeitlehrer für diese Stelle gefunden würde. Kaum hatten sie ihre Tätigkeit begonnen, als ihnen eine Volontärin von Diospi Suyana erzählte. Mitten im Himalaya schauten sich die Rehders im Internet den Film über das „Krankenhaus des Glaubens“ an. Wahnsinn! Matthias und Jennifer kriegten Diospi Suyana nicht mehr aus ihrem Kopf. Das erste Buch „Ich habe Gott gesehen“ besorgte sich Jennifer elektronisch. Das zweite Buch „Gott hat uns gesehen“ entdeckte Jennifer während eines Heimatbesuches bei ihrer sterbenden Mutter auf dem Nachttisch.
Als Nachfolger für die Schule in Nepal meldeten sich gleich drei Interessenten. Die Rehders hatten ihre Mission in Asien also erfüllt. Am 2. Januar 2019 landeten sie mit ihrem Sohn Janne Paul am Flughafen von Lima. Die beiden Pädagogen haben sich für die Diospi-Suyana-Schule viel vorgenommen. Zwei Menschen, die sich von Gott geführt wissen. Eine Reise, die neben einer Tanzfläche in einer Bar begann. Mit einer Frau, die plötzlich sagte: „Ich vertraue auf Gott!“
Gegen Ende dieses Kapitels reisen wir nach Süddeutschland und besuchen den nordöstlichen Zipfel des Landkreises Lörrach. Dort liegt unweit des Großen Feldbergs die Kleinstadt Todtnau. Obwohl schon 1025 von Kaiser Konrad II. urkundlich erwähnt, zählt der reizvolle Skiort trotz seiner tausendjährigen Geschichte nur knapp fünftausend Seelen. Todtnau ist die Heimat von Dr. Georg Steinfurth. Der Arzt ist ein wahrer Tausendsassa: Unternehmer, Macher, Philosoph und halber Wissenschaftler. In den letzten Jahrzehnten flossen große Geldbeträge durch seine Taschen. Deshalb können wir ihm getrost auch das Label eines Millionärs umhängen.
Georg war ein schlanker, gut aussehender Oberschüler. Der hochintelligente Gymnasiast hatte die Mädchen noch nicht entdeckt. Deshalb trieb er sich weder in den lokalen Diskos noch auf den üblichen Schulpartys herum. Seine große Liebe galt den Büchern. Lesen ist ein hervorragender Zeitvertreib. Es macht Spaß und bildet, es prägt unseren Charakter und formt unser Weltbild. Wir können aus Langeweile lesen oder gezwungenermaßen vor einer Prüfung. Bei Georg gewannen Bücher im Jahr 1979 eine enorme Bedeutung, als der Sechzehnjährige nämlich anfing, sich mit den letzten Fragen der Menschheit zu beschäftigen.
Die Nachricht vom Tod seines Freundes traf Georg hart. Hatte er nicht erst einige Tage zuvor mit dem cleveren Schachspieler am Brett mental gerungen? Jetzt war er von einem Moment zum anderen aus seinem Leben verschwunden. Einfach weg. Auf der Beerdigung hatten vier kräftige Männer seinen Sarg in die Erde hinabgelassen. Aber was lag da wirklich in diesem schwarzen Kasten? Markierten seine sterblichen Überreste den verfrühten Schlusspunkt nach einem ach so kurzen Leben? War die Identität von Edgar damit endgültig und unwiederbringlich ausgelöscht? Georg wusste es nicht und kam mehr und mehr ins Grübeln. Gab es vielleicht doch eine jenseitige Welt, irgendwo in der Ferne? Seit Jahrtausenden haben sich die klügsten Geister mit diesem Rätsel beschäftigt. Für einen Jugendlichen wie ihn war die Auseinandersetzung mit jenem Thema sicherlich keine leichte Aufgabe. Georg wollte sich zunächst in der Literatur schlau machen. Sobald er nach der Schule sein Mittagessen verschlungen hatte, verschwand er in seinem Zimmer und vergrub sich in der Welt des geschriebenen Wortes. Er nahm Fachbücher der Physik zur Hand und arbeitete sich durch das Tibetanische Totenbuch. Er studierte weite Teile des indischen Sanskrits und prüfte eine ganze Serie parapsychologischer Werke auf ihren Wahrheitsgehalt. Schließlich kaufte er sich aus dem Fischer-Verlag eine sechsbändige Abhandlung über die Geschichte der Philosophie. Zwei Jahre lang dauerte dieses intensive Privatstudium unter Zuhilfenahme von einschlägigen Sachbüchern.
Den 18. April 1981 wird Georg nie vergessen. Er lag auf seinem Bett und klappte wieder einmal einen hinteren Buchdeckel zu. Endlich hatte er verstanden. „Es gibt keine absolute Wahrheit“, murmelte er, „alles ist subjektiv und abhängig vom Blickwinkel des jeweiligen Betrachters!“ Und mit dieser Erkenntnis war ihm auch klar geworden, dass sein verstorbener Freund in ein dunkles ungewisses Nichts eingetaucht war. Der Abiturient sinnierte düster vor sich hin und seufzte in einem Anflug von Melancholie. Da vernahm er unversehens eine klare Stimme: „Ich bin die Wahrheit!“
Georg war völlig perplex. „Nein“, antwortete er, „unser Leben ist eine Wanderung ohne Sinn und Ziel!“
„Ich bin die Wahrheit!“ – Der Satz ertönte zum zweiten Mal.
Georgs Gedanken flogen zurück zu seiner Zeit als Ministrant in der katholischen Kirche. Hatte nicht ein Priester damals diesen Satz aus der Bibel zitiert? Georg sprang auf und begann wie wild im Haus seiner Eltern nach einer Bibel zu suchen. Alle möglichen Werke aus den unterschiedlichsten Rubriken standen ordentlich aufgereiht auf den Regalbrettern, aber die Bibel, das Buch der Bücher, fehlte.
Am nächsten Tag trampte er nach Freiburg und holte sich in einer Buchhandlung eine Ausgabe des Neuen Testamentes. Auf dem Nachhauseweg war er schon mittendrin im Text. Er hatte sich längst erinnert, dass dieser Satz „Ich bin die Wahrheit“ von Jesus Christus stammte. Und ihn überkam die leidenschaftliche Sehnsucht, den gesamten Kontext dieser ungeheuerlichen Aussage zu verstehen.
Etwa zwei Wochen später geschah etwas höchst Bemerkenswertes. Er sah nachts im Traum eine Schafherde auf sein Elternhaus zulaufen. Ein Mann im weißen Gewand ging voran. Er schaute Georg in die Augen und sprach: „Ich bin der gute Hirte. Folge mir nach!“
Georg spürte instinktiv, dass er in dieser Herde völlig deplatziert wäre. Die Nähe Jesu mochte etwas für gute Menschen mit edler Gesinnung sein, aber nicht für ihn. Im Traum rannte er weg, so schnell er konnte. Aber wie seltsam, die Schafe dribbelten zwar im gleichen Tempo weiter, aber auf wundersame Weise umringten sie ihn bald von allen Seiten. Als Georg aus seiner nächtlichen Vision erwachte, traf er eine Entscheidung, die bis heute die Grundlage seines Lebens ist: Er würde dem guten Hirten nachfolgen, der als Einziger mit göttlicher Autorität von sich sagen konnte, die personifizierte Wahrheit zu sein.
Georg bat für jedes Fehlverhalten um Entschuldigung, das ihm in den Sinn kam. Er spendete sogar seine knappe Barschaft an arme Leute auf der Straße. Im Bewusstsein, dass die Wahrheit Christi die Lösung für das menschliche Dilemma ist, räumte er in allen Lebensbereichen kräftig auf. Man könnte diese Aktivitäten als eine etwas merkwürdige Vorbereitung auf ein Abitur bezeichnen. Seltsam sicherlich, aber auch erfolgreich. Am 23. Mai 1982 bestand Georg das Abitur als Jahrgangsbester, eine Leistung, die vom Gymnasium mit drei Preisen honoriert wurde.