Montagmorgen wachte Jose aus seinem Koma wieder auf. Gegen 11 Uhr am Vormittag begrüßte er meine Frau mit den Worten „Gracias“, vielen Dank. Er sprach und reagierte, als ob nichts gewesen wäre. Seine kognitiven Fähigkeiten ließen keinen Defekt erkennen, und er bewegte seine vier Gliedmaßen ohne jede Einschränkung. Für uns Ärzte ein unglaublicher Vorgang.
Acht Monate später am 25. August feierte Jose seinen dreizehnten Geburtstag im Kinderklubhaus unserer Mission. Gladys hatte – wie versprochen – die Party ausgerichtet. Jose ist völlig gesund geblieben und hat keine bleibenden Schäden davongetragen. Von uns Ärzten hatte damals wohl niemand den Glauben gehabt, um seine Heilung zu beten, aber Gladys hatte ihn. Medizinisch ist der Fall völlig unerklärlich, denn die neurologische Katastrophe hatte nachweislich stattgefunden.
Auf unserer Webseite schrieb ich einen Tag nach seinem Geburtstag: „Hoffentlich wird Jose nie vergessen, dass ihm ein zweites Leben geschenkt wurde!“
In diesem Kapitel habe ich vier Patienten mit ihren Leidensgeschichten vorgestellt. Mittlerweile behandeln wir am Tag bis zu 250 Hilfsbedürftige, das heißt 5.000 Patienten im Monat. Wir tun für sie das, was wir können. Oft sind wir mit unseren Therapien erfolgreich, aber nicht immer. Die meisten Kranken schätzen unseren Einsatz, aber nicht alle. Wir verrichten unseren Dienst aus Leidenschaft und nicht des Geldes wegen. Manchmal sind wir müde und erschöpft, aber wir zweifeln nie an der Sinnhaftigkeit unseres Handelns.
Die Diospi-Suyana-Schule mit Vorbildcharakter
Ein Fernsehteam drehte gerade einen Beitrag für das ZDF, und natürlich wollten unsere drei Reporter aus Deutschland außer dem Spital auch die Diospi-Suyana-Schule in Augenschein nehmen. Also wanderten wir gemeinsam durch die Klassen- und Fachräume. „Diese Schule ist schöner als meine damals in Berlin“, sagte der Teamleiter und nickte befriedigt mit dem Kopf.
Das Colegio-Diospi-Suyana ist keine Bildungsstätte für Kinder der Münchner Schickeria oder für die Zöglinge reicher Diplomaten in Lima. Vielmehr formt unsere Einrichtung eine Generation, die oftmals im Umfeld der Trostlosigkeit aufwächst. Viele dieser Jungs und Mädchen stammen aus dysfunktionalen Quechua-Familien und leben unter Umständen extremer Vernachlässigung. Trotzdem verstehen es unsere Lehrer, die Kinder aus den unterschiedlichsten Milieus des Ortes sowie aus Missionarsfamilien zu integrieren. Aus dieser heterogenen Truppe entstehen Klassenverbände mit Wir-Gefühl und Solidarität. Die Schülerinnen und Schüler erhalten eine Ausbildung, die es im Bergland Perus kein zweites Mal geben dürfte.
Im Dezember 2019 endete das sechste Schuljahr seit Bestehen und 2020 hatten wir rund 400 Kinder im Kindergarten sowie in der Unter- und Oberstufe. Eine enorme Steigerung im Vergleich zu den 176 eingeschriebenen Schülern im März 2014. Christian und Verena Bigalke, deren Werdegang ich im zweiten Buch beschrieben habe, leiten die Schule gemeinsam mit dem Peruaner Señor Nicolas Sierra. Sie tun dies seit Beginn mit dem größten persönlichen Engagement. Am 19. Mai 2018 berichtete Somos, die wichtigste Wochenzeitschrift Perus, über diese „Educación de Altura“, Ausbildung in der Höhe. Der Titel spielte auf die Lage in den Bergen an, meinte aber auch eine Schule auf der Höhe ihrer Zeit.
Die Redakteurin Ana Núñez hatte mit einem Fotografen den schulischen Betrieb zwei Tage beobachtet. Sie schrieb: „Es ist schwierig, sich vorzustellen, dass in einem Dorf namens Curahuasi eine Schule wie diese steht, in einem Distrikt zwischen Cusco und Abancay und 980 Kilometer von der Hauptstadt Lima entfernt. … Alles, was sich in dieser zwischen den Bergen gelegenen Schule befindet, ist das Ergebnis von Spenden: das Geld für das Grundstück, der Zement für die Wände, die Musikinstrumente und sogar die Materialien für die verschiedenen Labors!“
Vielleicht erläutern die drei folgenden Fallbeispiele besser als Zahlen und Presseartikel, was das Colegio Diospi Suyana im Minenfeld kaputter Familien bewirkt.
Die Mutter von Ana Maria (7. Klasse) und Fiorela (4. Klasse) litt an Depressionen und führte ein unordentliches Leben. Unter diesen Bedingungen blieb Fiorela sitzen und auch ihre Schwester Ana Maria war im Unterricht keine große Leuchte. Man kann es den Kindern kaum verübeln. In Absprache mit der Staatsanwaltschaft wurden die beiden Mädchen von unseren Sozialarbeiterinnen Carolin Klett und Debora Centner betreut. Sie schauten nicht nur zu Hause nach dem Rechten, sondern organisierten auch Hilfen von lokalen Kirchengemeinden. Heute geht die Mutter einer geregelten Arbeit nach und nimmt an den regelmäßigen Seminaren für Eltern teil. Dort lernt sie, wie familiäre Beziehungen sinnvoll gestaltet und bei Krisen geheilt werden können. Diese Veränderungen sind spürbar und messbar. Ana Maria und Fiorela verwandelten sich Schritt für Schritt in fleißige Schülerinnen, die nun einer positiven Zukunft entgegensehen.
Anyeli (5. Klasse) und Gino (1. Klasse) besuchen seit März 2019 unser Colegio. Die Familie hatte im Radio von unserer Schule gehört, und Anyeli hatte sogar heimlich gebetet, Gott möge ihr den Schulbesuch bei Diospi Suyana ermöglichen. Ihr Stiefvater steckte wegen seiner hohen Schulden in einer tiefen Depression. Das Klima zu Hause war kalt und lieblos. Es erstaunt kaum, dass die Eltern kurz vor einer Trennung standen. Auch die örtlichen Gegebenheiten machten es für die Familie schwer. Ihr einfaches Haus liegt im Dorf Trancapata, eine Dreiviertelstunde von der Kleinstadt Curahuasi entfernt.
Diese missliche Situation stellte unsere Mitarbeiter vor eine große Herausforderung, die sie aber mutig annahmen. Die Schulgelder der Kinder und der tägliche Taxi-Shuttle zur Schule werden zum überwiegenden Teil von Paten beglichen. Debora Center organisierte Schulmaterialien und Pausenbrote. Unsere Schulpastoren, die Klassenlehrerin und Sozialarbeiterin Debora führten mit den Eltern ausführliche Beratungsgespräche. Diese gute Saat sollte aufgehen. Der Stiefvater ist inzwischen medikamentös eingestellt und verdient wieder Geld für die Familienkasse. Als Paar haben Mutter und Vater gelernt, ein vertrautes Familienleben zu entwickeln. Besonders die Elternseminare haben sie wieder zusammengeschweißt. Anyeli und Gino haben Freude am Lernen, und sie können im Förderprogramm am Nachmittag vieles nachholen, was sie bisher versäumt haben.
Doch nun möchte ich Ihnen die vierjährige Giselle Solange vorstellen. Sie besucht Woche für Woche den Diospi-Suyana-Kindergarten. Zu Hause verging kein Tag, an dem die Eltern sich nicht lautstark stritten. Nicht nur einmal führte die Aggression zu psychischer und physischer Gewalt. Der Vater arbeitete als Handlanger auf diversen Baustellen, doch ein Teil seines Verdienstes landete in der Kneipe an der Ecke. In dieser wie in ähnlichen Familien fehlte es an Aufsicht, Stimulation und Liebe. Und keiner kümmerte sich um die Sprachschwierigkeiten von Giselle. Wer sollte auch eine Sprachförderung bezahlen, wenn der kleine Laden der Mutter so gut wie nichts einbrachte? Das Verhältnis der Eltern wurde mehr und mehr zerrüttet, bis der Vater sich schließlich auf und davon machte.
In der westlichen Welt reagieren manche allergisch, wenn wir in solchen hoffnungslosen Situationen den Glauben an Gott ins Spiel bringen. Aber in dieser Familie waren es die Bibel, das Gebet und die Seelsorge, die einen erstaunlichen Neuanfang ermöglichten. Unsere Logopädin Nelli Klassen gab Giselle einen hervorragenden Sprachunterricht. Aber sie tat noch viel mehr. Sie begann mit der Mutter in der Bibel zu lesen. Es dauerte nicht lange und Giselles Mama besuchte eine lokale Kirchengemeinde. Als sie hörte, dass Gebete nicht in der Fantasie bekümmerter Seelen hängen bleiben, sondern zu Gott vordringen, fing sie an für eine Heilung ihrer Partnerschaft zu beten. Nach zwei Wochen kehrte der Mann tatsächlich nach Hause zurück. Mittlerweile ist der Vater in das Familienleben integriert. Er erhielt die Auflage, mit seiner Tochter Zeit zu verbringen. Und einmal wöchentlich schauen sich die beiden in unserer Schulbibliothek gemeinsam interessante Bücher an.
Natürlich verläuft diese Entwicklung nicht geradlinig nach oben, aber der Schulpastor hilft, dass die Eltern die Flinte niemals ins Korn werfen. Im Sommer 2019 sagte die Mutter zu Debora Centner: „Früher haben wir uns immer gegenseitig angebrüllt und verletzt. Und wir ließen unseren Emotionen freien Lauf. Jetzt gehe ich bei einem Streit erst einmal nach draußen. Und das, was vorher undenkbar erschien, ist eingetreten: Mein Mann kommt immer öfter zu mir und bittet mich um Verzeihung. Und dann setzen wir uns zusammen und suchen eine Lösung!“ Diese Aussage der Mutter ist ein echtes Statement im Umfeld der südamerikanischen Machokultur.
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