Auf dem Wasser laufen. Klaus-Dieter John. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus-Dieter John
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765575754
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Prüfungen zu bestehen. Vielmehr kehrt durch den ganzheitlichen Ansatz Hoffnung in die Familien ein. Unsere Lehrer, Psychologen und Sozialarbeiter dreschen keine frommen Phrasen, sondern ermuntern und trösten im Namen des Glaubens.

       Junkies, Partyfreaks und Millionäre

      Ein solides Elternhaus, eine gute Ausbildung und hervorragende Charaktereigenschaften – viele unserer Mitarbeiter passen in dieses Schema. Aber längst nicht alle. Und es sind gerade diese gescheiterten Existenzen, die sogenannten Versagertypen, die im großen Organigramm von Diospi Suyana wichtige Aufgaben erfüllen. Einer von ihnen ist ein kleiner Mann mit wuscheligen schwarzen Haaren.

      Marco genoss das Leben in vollen Zügen. Er spielte Gitarre in einer Band und war so richtig locker drauf. Meist trieb er sich in den Straßen der Stadt Abancay herum. Eine regelmäßige Arbeit war nicht sein Ding. „Ich scheiß auf das Establishment!“, sagte sich Marco, „ich brauche keine Karriere, und gesellschaftliche Anerkennung erst recht nicht!“ Seine Freunde in der Gang interessierten ihn schon mehr. Das waren coole Leute. Gemeinsam mit seinen Kumpels hellte er seine Stimmung regelmäßig mit Kokain und Marihuana auf. Marco wusste, wie man die getrockneten Blätter der Hanfpflanze in wenigen Sekunden zwischen Daumen und Fingern zu einem Joint drehte. Gierig blickte er auf seine schmutzigen Hände. Einige tiefe Inhalationen, und er würde dieses stimulierende Gefühl wieder in seinem Körper spüren. Bis zur nächsten Dröhnung war es nie weit. Ein junger Mann unterwegs von Kick zu Kick und meist nicht ganz klar in der Birne.

      Aber wie jeder Drogenabhänge benötigte Marco einen regelmäßigen Nachschub an Material, sprich Cannabis und Papier. Irgendwann im Jahr 2009 fand er auf einem Regalbrett im Haus seiner Eltern einen wahren Schatz. Marcos Augen flackerten. Das dicke Buch in seinen Händen hatte etwa 1.000 dünne Seiten, die perfekte Lösung also für Joints über viele Wochen. Er riss das letzte Blatt heraus und verteilte den Stoff sorgfältig auf dem gedruckten Papier. Einfach genial. Schon führte er die Zigarette an seinen Mund. Ein tiefer Zug. Das tat gut. Fünfeinhalb Seiten fanden so ihre gewünschte Verwendung. Doch beim sechsten Joint klappte er den Buchdeckel vorne auf und fing an zu lesen. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, so stand es da in kleinen dunklen Buchstaben. Irgendwie interessant, dachte Marco und überflog die nächsten Zeilen.

      „Plötzlich sprach das Buch zu mir“, so beschreibt Marco heute die Dynamik, die unvermittelt einsetzte. „Ich kam von dieser Lektüre nicht mehr los. Stundenlang saß ich auf den Wiesen vor Abancay und saugte den Inhalt Wort für Wort förmlich in mich auf!“ Jeder Satz brannte sich in seine Fantasie ein. Nach einigen Wochen war er am Ende des Wälzers angekommen. Marco verstand zum ersten Mal in seinem Leben, dass er Hilfe benötigte. Er sah sein Dasein in einem völlig neuen Licht. Wie hatte er nur so viele Jahre verschwenden können? Er brauchte Vergebung und eine innere Erfüllung, die mehr bot als ein kurzes High. „Gott, hilf mir. Mach mich frei!“ Der Schrei seines Herzens tönte in eine unsichtbare Welt. Er wurde rascher erhört, als sich Marco das je hätte vorstellen können.

      Von einem Tag zum anderen verlor er seine Sucht. Er mochte das Zeug überhaupt nicht mehr anfassen. Im Neuen Testament hatte Marco die Worte Jesu gelesen. „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen!“

      Die innere Veränderung war real und drang nach außen.

      „Marco“, rief eine seiner Freundinnen, „deine Augen leuchten so, was ist mit dir geschehen?“

      Es dauerte nicht lange und Marco schnitt sich als Zeichen seiner totalen Umkehr die zotteligen Haare ab und begann in Lima eine vierjährige theologische Ausbildung.

      Sein Bruder war Alkoholiker und sein Vater ein durchgeknallter Extremist mit radikalen Ansichten. Der totale Wandel von Marco machte auf alle Familienmitglieder einen tiefen Eindruck. Einer nach dem anderen kam zum Glauben an Gott. In einer noch nie gekannten Einmütigkeit begann die Familie, an den Sonntagen die Gottesdienste einer evangelischen Kirchengemeinde zu besuchen.

      Im August 2014 hörte Marco mit 200 weiteren Jugendlichen im Hörsaal einer Universität von Abancay einen Vortrag über Diospi Suyana. Unmittelbar nach meiner Präsentation stellte er sich mir vor. Und im Dezember des gleichen Jahres setzten der Ex-Junkie und ich unsere Unterschriften unter einen mehrseitigen Arbeitsvertrag. Seit jenem Tage ist er als unser Reisepastor im Süden Perus unterwegs und besucht ehemalige Patienten von Diospi Suyana. Sein Leben hat viel mit dem Vorbild seines Herrn zu tun. Er verkehrt mit Tausenden von Armen und Verachteten auf Augenhöhe. Die meisten seiner Gesprächspartner sind Quechua-Indianer und Mestizos der Anden.

      Im Mai 2018 schickte er mir einige Fotos von seinem Besuch in einem Indianerdorf. Das Bild zeigte Marco mit seiner zerfledderten Bibel in der Hand neben einem einfachen braunen Holzsarg. Darinnen lag der Leichnam einer Frau, die noch in ihren Zwanzigern einer Krebserkrankung erlegen war. Ihre Nachbarn und Verwandten standen um den schlichten Kasten herum, während Marco seine Predigt hielt. Die meisten seiner Zuhörer waren keine überzeugten Christen und die wenigsten würde man sonntags in einer Kirche antreffen. Aber dort auf dem Campo Santo, dem heiligen Gottesacker, verweilten sie geduldig und lauschten. In der säkularen westlichen Welt ist das ganz ähnlich. Wenn die Trauerfeier eines Bekannten ruft, geht man hin. Aus Solidarität und dem Gefühl, nicht kneifen zu wollen.

      Auf einem Friedhof drängen sich Gedanken auf, die wir sonst so gerne von uns wegschieben. „Mit welcher Hoffnung lebe ich und mit welcher Hoffnung werde ich einmal sterben?“ Am offenen Grab werden selbst die lautesten Spötter seltsam schweigsam. „Hatte Jesus vielleicht doch recht, als er sagte, wir müssten einmal alle vor Gott Rechenschaft ablegen? Und könnte der Auferstandene wirklich unsere Sünden vergeben und uns ein ewiges Leben schenken?

      Die Predigt von Marco wäre auf einem Friedhof in der westlichen Welt in gleicher Weise aktuell gewesen. Unsere Zuversicht basiert auf der Auferstehung Christi am dritten Tag. Es gibt nirgends sonst eine überzeugende Alternative zu dieser Nachricht.

      Regelmäßig erhalte ich von Marco Berichte über seine Tätigkeit. Seine Protokolle lassen erahnen, welchen persönlichen Preis er bei seiner Reisetätigkeit zahlt.

      „Nicht alles, was ich erlebe, ist rosarot. Für meine Arbeit benötige ich die Nähe und die Kraft Gottes. Ich mache Kälte und Hitze durch. Manchmal stehe ich mitten im Regen. Ich muss das essen, was man mir anbietet. Gelegentlich finde ich die Patienten nicht, die ich suche. Dann fühle ich mich niedergeschlagen, als ob ich nichts, aber auch gar nichts erreicht hätte. … Nicht wenige Reisen sind gefährlich und die Wege eng. Und manche Fahrer rasen um die Kurven. Dann bete ich, dass Gott uns davor bewahrt, in die Tiefe zu stürzen. Ja, in der Tat, ich erlebe viele Schwierigkeiten in meiner Aufgabe als Evangelist. Aber es gibt nichts, was ich mit der Hilfe Gottes nicht überwinden könnte. Ich schaffe alles durch Jesus Christus, der mir die innere Stärke schenkt!“

      Vom Hippie an der frischen Luft gehen wir nun in eine Diskothek. Der Mief ist zum Schneiden und aus den Boxen tönen heiße Rhythmen.

      Matthias Rehder studierte in Hamburg Naturwissenschaften. Er war ein heller Kopf, ohne Frage. Vielleicht lag das an seiner Kinderstube. Sein Vater arbeitete an der Universität als Professor der Chemie. Beste Voraussetzungen. Intelligenz wird vererbt oder gelernt. Matthias war nicht nur schlau, sondern er sah auch gut aus. Der richtige Mix, um in einer westeuropäischen Gesellschaft erfolgreich zu sein. Zwei Jahre später würde er sein Staatsexamen mit Auszeichnung machen, und zwar in den Fächern Mathematik und Chemie.

      Gott spielte in seinem Leben absolut keine Rolle. Seine Eltern hatten ihn nicht taufen lassen. Konfirmiert war er auch nicht. Warum auch? Matthias sah ein wenig auf Menschen herab, die eine „höhere Macht“ brauchten, um mit ihrem Leben klarzukommen. Was ihn betraf, war er mit sich und der Welt ganz zufrieden. Bei ihm ging es ohne eine „religiöse Krücke“. Jung und gesund. Allseits interessiert. Nach einem Film über den Dreißigjährigen Krieg griff Matthias zum Neuen Testament. Er wollte wissen, warum sich damals vor 350 Jahren so viele Leute die Köpfe eingeschlagen hatten. Bei seiner Lektüre wunderte er sich, dass die Geschichte von Jesus gleich vier Mal erzählt wurde. Die Lutherübersetzung war alt, die Schrift schwer lesbar.