Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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      Ich muss an meine Sitznachbarin im Flugzeug denken, an ihre Reiselektüre. Ein düsterer Skandinavien-Thriller mit blutbesudelter Schneelandschaft auf dem Cover. Wieso lesen die Leute so gerne Geschichten über Mord und Totschlag? Gibt es ihnen vielleicht auch einen Kick, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen? So wie es mir in meiner Zeit bei der Schülerzeitung ging?

      Bei meinem Rauswurf habe ich dem Rektor erklärt, ich hätte aus Überzeugung gehandelt. Wenn ich tief in mich hineinschaue, glaube ich allerdings, ich hatte eher andere Gründe. Welche das sein könnten? Da bin ich mir selbst nicht so sicher.

      Foto: Auf einem Konferenztisch steht ein Silbertablett mit einer Flasche Voss Artesian Water und einigen auf Hochglanz polierten Gläsern.

      Filter: Juno

      Bildunterschrift: Auf der Arbeit. Vorbereitungen für eine Präsentation. Aufregend! #liebemeinleben

      

2409

      Wie die Bildunterschrift hätte lauten sollen …

      Option 1: Die Welt ist voller Trigger. Heute war es ein Glas Wasser. Morgen wird es etwas anderes sein.

      Option 2: Ich dachte, ich kann selbst über mein Leben bestimmen, kann selbst darüber entscheiden, welchen Weg ich gehen will. War das ein Irrtum?

      Option 3: Heute sieht mein Gefängnis aus wie ein Aquarium, aus dem irgendwer das Wasser gelassen hat, und ich bin der Fisch.

      IMOGEN

      Imogen hat schon so oft zugehört, wie ihre Chefin die Vorzüge der Agentur anpreist, dass sie den Vortrag auswendig kennt. Zum Glück, muss man sagen. Seit Wochen wurde dieses Meeting vorbereitet, es ist ein wichtiger Bestandteil von Ms Kendricks Masterplan, das Geschäftsfeld auf die Lebensmittelbranche auszuweiten. Doch Imogen kann sich beim besten Willen nicht auf das Geschehen im offiziellen Konferenzraum konzentrieren, einem stickigen Glaskäfig.

      »Wir von London Analytica nehmen eine echte Vorreiterrolle ein.« Ms Kendrick steht vor einem großen Flachbildfernseher mit einer sorgfältig gestalteten PowerPoint-Folie. Weiße, futuristische Schrift auf stahlgrauem Grund, insgesamt fünf Stichpunkte:

      Offenheit für Erfahrungen

      Gewissenhaftigkeit

      Extraversion

      Verträglichkeit

      Neurotizismus

      Ms Kendrick trägt eine eng anliegende, maßgeschneiderte schwarze Hose und einen Tweed-Blazer von Chanel – ihr Markenzeichen. Sie besitzt einige davon, alle im klassischen Cardigan-Schnitt. Dieses Exemplar, eine Kombination aus grauer, schwarzer und pinkfarbener Wolle und goldenen Knöpfen, stammt aus der neuesten Kollektion. Offenbar läuft die Agentur gut. Imogen hat im Netz nach dem Blazer gesucht, er kostet fünf Riesen.

      »Mit ein und derselben Botschaft auf alle Kunden abzuzielen, das ist Marketing von gestern«, fährt Ms Kendrick fort, um dann mit effektvoll aufgerissenen Augen hinzuzufügen: »Aus dem letzten Jahrhundert. Hier bei London Analytica finden Sie die Zukunft des Marketing.«

      Am anderen Ende des langen Konferenztisches, gegenüber von Imogen und Ms Kendricks Stellvertreter Mark, sitzen die Kunden. Zwei Männer, CEO und COO eines Anbieters von Tiefkühlfisch. Beide sind kahl, haben fahle Haut und kratzen bestimmt schon an der 60. Zwei schlecht sitzende Anzüge, zweimal mürrisches Stirnrunzeln. Den Typ Mann kennt Imogen. Geschäftsleute, deren Firmen schon lange ihren Zenit überschritten haben, die jetzt aber noch einen letzten verzweifelten Versuch unternehmen, den alten Glanz wiederherzustellen. Angeblich sind sie bereit, sich auf die Zukunft einzulassen, einen großen Schritt ins 21. Jahrhundert zu wagen, ihr Gesichtsausdruck sagt aber etwas anderes. Am liebsten würden sie es sich tief in den 1950er Jahren gemütlich machen und ihre Werbeanzeigen weiter in einer anständigen Papierzeitung drucken lassen, um sie dann bei einer schönen Tasse Tee zu bewundern, während die Gattin eine Portion Fischstäbchen in den Ofen schiebt.

      »Wir bieten Ihnen psychografisches Targeting – ein revolutionäres Verfahren, das es ermöglicht, jeden einzelnen potenziellen Kunden direkt durch maßgeschneiderte Botschaften anzusprechen.« Ms Kendrick tritt von einem Fuß auf den anderen. Die offensichtliche Skepsis der beiden Männer lässt sie nicht kalt.

      Es läuft nicht optimal. Imogen ist aber zu abgelenkt, um mit ihrer Chefin mitzufühlen. Sie denkt pausenlos an die E-Mail. Kurz vor Beginn des Meetings hat sie sie geöffnet. Ihr war bewusst, dass ihre Konzentration darunter leiden würde. Doch zuvor, als sie sie noch nicht geöffnet und noch keine Ahnung gehabt hatte, was sie enthielt, hatte sie an diesem Arbeitstag rein gar nichts auf die Reihe gebracht.

      »Immie«, sagt Ms Kendrick vorne. »Immie?«

      Erst nach einer Weile begreift Imogen, wer gemeint ist. Im Büro heißt sie Immie. Sie hasst den Spitznamen, der ihr an ihrem ersten Arbeitstag verliehen wurde. Sich dagegen zu wehren, kam trotzdem nicht infrage. Auch Ms Kendrick heißt Imogen und irgendwie müssen die Kollegen zwischen ihr und der Frau an der Spitze unterscheiden. Mit dem Vornamen der Chefin treibt man keine Spielchen.

      Ms Kendrick sieht Imogen über den Rand ihrer Cateye-Brille hinweg an. Wie oft hat sie schon nach ihr gerufen?

      »Schön, dass du bei uns bist. Wenn du bitte nach vorne kommen und den Herren einen Überblick über die technischen Aspekte unseres Angebots geben könntest?«

      Imogens Aufgabe ist es, das Fünf-Faktoren-Modell vorzustellen. Das FFM ist der wichtigste Eckpfeiler ihres Geschäftsmodells. Dabei ist es eigentlich nichts Neues. In der Psychologie kennt man es seit Jahrzehnten, ein Klassiker. Auch Imogen hatte schon vor ihrem Job bei London Analytica davon gehört, es tauchte in der Vorlesung »Einführung in die Psychologie« an der Uni Cambridge auf. Sie fand das Fünf-Faktoren-Modell großartig. Dann fand sie es schrecklich. Er hat es ihr kaputtgemacht.

      Sie zwingt sich, nicht daran zu denken, an die E-Mail, die Vergangenheit, das Monster. Das muss warten. Solange das Meeting läuft, muss sie sich zusammenreißen.

      Imogen steht auf. Neben ihr sitzt Mark, sein Stuhl ein bisschen zu dicht an ihrem. Als sie sich daran vorbeischiebt, bleibt sie mit dem Fuß an einem Stuhlbein hängen und gerät ins Stolpern.

      »Alles okay, Immie?« Mark fasst sie an der Hand und verhindert so, dass sie auf die Nase knallt.

      Mark ist Mitgründer von London Analytica. Anders als Ms Kendrick ist er durch den Erfolg der Firma aber nicht unglaublich steif und humorlos geworden. Anders als sie erinnert er nicht an eine frisch ausgestopfte Katze.

      »Ja, alles prima. Danke, Mark.« Alles prima. Wie kommt sie darauf, so etwas zu sagen?

      Am Konferenztisch entlang geht Imogen nach vorne zum Flachbildfernseher. Sie schwitzt. Im Sommer ist es in diesem Raum, den alle nur »das Aquarium« nennen, furchtbar heiß und stickig. Ob sie wohl einen Schweißfleck vorne an der Bluse hat? Imogen will nicht nachsehen. Im Zweifel würde sie so bloß die Aufmerksamkeit darauf lenken.

      Jetzt steht sie neben Ms Kendrick, die ihr die Fernbedienung für die PowerPoint-Präsentation in die Hand drückt. Dabei zieht Ms Kendrick ihre schmalen, mit scharfem Strich aufgemalten Augenbrauen hoch. Es ist eine unmissverständliche Botschaft: Verkack es nicht.

      »Vielen Dank, Ms Kendrick«, sagt Imogen in überraschend fröhlichem Ton – also in Anbetracht dessen, dass sie in Wirklichkeit am liebsten nach Hause rennen und in ihren Pyjama schlüpfen würde, um sich Pizza und Netflix reinzuziehen und nie wieder aus dem Haus zu gehen. Statt diesem Drang nachzugeben, dreht sie sich mit einem strahlenden Lächeln zu den Kunden.

      Sie hat den Eindruck,