Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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Erstarrung. »Immie? Hast du den Herren nicht verstanden? Schenk ihm ein Glas Wasser ein.«

      Mark springt auf. »Ich mache das schon«, sagt er und begibt sich auf den Weg zu dem Tablett mit den Gläsern und Wasserflaschen, obwohl er von allen Anwesenden am weitesten entfernt sitzt.

      Imogen sieht zu, wie er den gesamten Tisch umrundet, bis er schließlich bei dem Kunden ankommt.

      »Still oder mit Sprudel, Sir?«, fragt er.

      »Mit Sprudel«, antwortet der Kunde. Inzwischen hustet er nicht mehr.

      Mark greift an ihm vorbei, schraubt eine der zylinderförmigen Flaschen auf, füllt ein Glas und stellt es vor ihm auf den Tisch.

      Der Kunde nimmt es in die Hand. »Danke.« Er drückt den Rand gegen seine dünnen Lippen. In seinen Mundwinkeln kleben weiße Speichelbläschen. Er schüttet das halbe Glas in sich hinein. Von der zischenden Kohlensäure tränen seine gelblichen Augen.

      »Gern geschehen«, erwidert Mark und neigt den Kopf, eine fast schon übertrieben untertänige Geste.

      Imogen fragt sich, ob das eine kleine Boshaftigkeit sein sollte – gegen den Mann, der zu wichtig ist, sich selbst ein Glas Wasser einzuschenken, oder gegen sie, weil sie ihm die Bitte verweigert hat? Auf dem weiten Rückweg zu seinem Platz gibt Mark ihr die Antwort: Am Tischende angekommen, sieht er Imogen an, verdreht die Augen und deutet mit einem leichten Nicken auf den Kunden, der gerade den letzten Schluck trinkt. Dann lächelt Mark sie an.

      Sie hat einen Kloß im Hals.

      Mark ist immer so nett zu ihr. Ganz im Gegensatz zu Ms Kendrick und den beiden anderen Mitgründern, die sie kaum wahrzunehmen scheinen. Wer so weit oben in der Befehlskette steht, hat offenbar Schwierigkeiten, Imogen auch nur zu sehen. Für die drei ist sie bloß ein Punkt in der Ferne. Aber Mark ist anders, er gesellt sich auch mal dazu, wenn die Angestellten in der kleinen Küche Kaffee trinken und den neuesten Büroklatsch austauschen. Er lacht mit ihnen, erzählt Witze, erträgt sogar den grausigen Instantkaffee, auf den man hier als Koffeinjunkie angewiesen ist. Ms Kendrick lässt sich zweimal am Tag einen Kaffee von Pret a Manger kommen.

      An Imogens erstem Tag bei London Analytica sagte Mark ihr, dass sie ihn ruhig fragen könne, wenn sie etwas brauche. Ein paar Tage später konnte sie dann den Drucker nicht zum Laufen bringen. Sie war als junger Mensch mit Technikkenntnissen angeheuert worden, weil es davon in jeder Firma mindestens einen braucht, und jetzt war sie nicht in der Lage, ein einseitiges Dokument auszudrucken – peinlich. Doch Mark kam einfach vorbei und scherzte, der Drucker sei fast so alt, dass er noch mit Dampf betrieben werde, und die ordnungsgemäße Bedienung einer Dampfmaschine falle nun wirklich nicht in Imogens Aufgabenbereich.

      Obwohl Mark immer so nett zu ihr ist, achtet Imogen genau darauf, seine Freundlichkeiten nicht zu erwidern. Sie ist nicht unhöflich, sie verhält sich nur professionell. Kein Lächeln, nie lachen oder scherzen. Diese Lektion hat das Monster sie gelehrt, unter anderem. Diese Narbe hat sie ihm zu verdanken, unter anderem. Sie kann das Gefühl nicht hinter sich lassen, dass sie irgendwie selbst schuld war. Dass sie neue männliche Bekannte nicht ermutigen sollte.

      Ms Kendrick räuspert sich, ein geräuschvolles Abhusten von Schleim, das Imogen nur auf sich selbst beziehen kann. »Könntest du bitte fortfahren, Immie? Damit Mark noch dazu kommt, über die finanzielle Seite zu sprechen.«

      Mark setzt sich. Nickt ihr aufmunternd zu.

      Imogen öffnet den Mund, um ihren Vortrag fortzusetzen. Es kommt kein Laut heraus. Sie probiert es noch mal. Nichts.

      Fische, hat sie mal gehört, atmen unter Wasser, indem sie es ins Maul ein- und durch die Kiemen wieder ausströmen lassen. So geht der Sauerstoff ins Blut über und gelangt in die Körperzellen. Wie sie so dasteht und ihren Mund öffnet und schließt, sich am Rande der Verzweiflung abquält, um die Worte irgendwie über die Lippen zu bekommen, sieht sie wahrscheinlich aus wie ein Fisch auf dem Trockenen, der noch für ein paar letzte Minuten nach Luft schnappt.

      Imogen kann so nicht mehr leben.

      Sie lässt die Fernbedienung für die PowerPoint-Präsentation fallen. Mit einem hohlen Aufprall landet sie auf dem Boden, das typische Klappern von Billigplastik auf edlem Massivholz.

      »Imogen«, hört sie Ms Kendrick sagen, während sie den Menschen am Konferenztisch den Rücken zukehrt. Seit ihrem Vorstellungsgespräch hat Ms Kendrick sie nicht mehr so genannt. »Imogen, wir haben einen Zeitplan einzuhalten.«

      Imogen stolpert dorthin, wo die Tür ungefähr sein müsste. Wo sie sich genau befindet, ist bei einer Wand aus Glas, Glas und noch mehr Glas nicht so leicht auszumachen.

      »Tut mir leid«, murmelt sie und tastet ungeschickt nach dem Türknauf. Erwischt ihn, packt zu, spürt den kalten Stahl in ihrer Hand.

      Sie dachte, sie hätte sich richtig entschieden. Dachte, es wäre ein Zeichen innerer Stärke, den Mund zu halten. Doch wann immer sie in der U-Bahn von irgendeinem Typen schweigend angegafft wird, wann immer sie einem alten Sack wie dem, der gegenüber am langen Tisch sitzt, einen Kaffee holen soll – oder ein Glas Wasser einschenken, egal – immer dann stürzt alles wieder auf sie ein.

      Sie hat einen Fehler gemacht. Einen Riesenfehler.

      Imogen reißt die Tür des Konferenzraums auf und flieht aus dem Aquarium.

      Foto: Ein Foto eines Fotos, eines alten Schnappschusses von einer Frau, der flammend rotes Haar über die Schultern fällt und auf deren Gesicht ein Lächeln strahlt wie die Sonne. Im Arm hält sie ein Neugeborenes.

      Filter: Time

      Wünschenswerte Bildunterschriften …

      Option 1: #liebe

      Option 2: Du fehlst mir.

      Option 3: Mutter und Tochter – die stärkste Verbindung.

      Mögliche Bildunterschriften …

      Option 1: Wenn ich mich doch nur daran erinnern könnte.

      Option 2: Wenn ich doch nur behaupten könnte, du wärst mein Fels in der Brandung gewesen.

      Option 3: Wenn ich doch nur niemals werde wie du. #sorrymum

      Tatsächliche Bildunterschrift …

      Es war einmal.

      

9

      HANNAH

      Ein Facebook-Freund von mir, ein Typ, den ich kaum kenne, der aber auf meine Schule geht – auf meine ehemalige Schule, muss man wohl sagen – hat gerade seinen Großvater verloren. In einem herzerwärmenden Post schildert er, was ihm sein Opa bedeutet hat, wie viel er von ihm gelernt hat und wie schlimm er ihn vermissen wird. Wenn ich so etwas lese, fühle ich mich wie eine Verräterin. Ich habe meiner Mum nie auf Social Media gedacht.

      Wollte ich das nachholen, könnte ich in etwa schreiben: Ich habe gerade meine Mum verloren. Sie hinterlässt eine unvorstellbar große Lücke in meinem Leben. Seit sie nicht mehr da ist, fühle ich mich so leer.

      Soweit würde alles der Wahrheit entsprechen. Wie es danach weitergehen soll, das wäre allerdings ein bisschen knifflig. Ich könnte schreiben: Meine Mutter war mein Fels in der Brandung, mein Vorbild, mein größter Fan. Das wäre gelogen.

      Um bei der Wahrheit zu bleiben, müsste es ungefähr so weitergehen: Mit meiner Mum ist der Mittelpunkt meines Daseins verloren gegangen. Klingt doch schön, oder? Ja, das entspricht den Erwartungen. Das danach nicht unbedingt: Seit meinem zwölften Geburtstag habe ich mich um meine Mum gekümmert. Die meisten