Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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ich buchstäblich nichts mehr mit mir anzufangen. Was soll ich mit meiner Zeit anfangen, wenn ich nicht mehr für sie kochen, einmal am Tag mit ihr spazieren gehen oder ihr mitten in der Nacht ein Glas Wasser bringen muss, weil sie wieder brüllt, dass die Stimmen in ihrem Kopf aufhören sollen? Wenn ich nicht mehr ihre Klamotten waschen muss, damit sie, wenn sie aus dem Haus geht, nicht nach dem Alkohol stinkt, den sie sich im Suff über ihr Top gekippt hat? Wenn ich sie nicht mehr überreden muss, ihre Tabletten zu nehmen oder vom Dach runterzusteigen, statt zu springen?

      Die Social Media wurden nicht erfunden, um andere Menschen am wahren Leben teilhaben zu lassen. Kein Mensch verfasst Twitter-Posts über seine Seelenqualen, kein Mensch berichtet auf Facebook von seinen tiefsten Leiden, kein Mensch lädt auf Instagram ein Foto von neulich hoch, als er zwei Stunden lang den Badezimmerboden schrubben musste, den seine Mum vollgeschissen hat, weil sie vor lauter Benebelung nicht mehr zur Toilette gefunden hatte.

      Deshalb mache ich es so: Ich knipse ein Foto von dem gerahmten Foto von Mum und mir, das ich aus London mitgenommen habe, und stelle es auf Instagram. Das ist meine schönste Erinnerung an Mum. Streng genommen kann es keine richtige Erinnerung sein – auf dem Foto bin ich nur ein paar Tage alt und wer erinnert sich schon an seine ersten paar Tage. Aber ich gönne es mir, trotzdem so zu tun, denn manchmal macht sich im Leben einfach so viel Realität breit, dass man nur noch mit ein bisschen Selbsttäuschung durchkommt.

      Es ist sieben Uhr früh. Ich sollte mich fertig machen, liege aber noch im Bett. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten habe ich geschlafen wie ein Stein. In meinem ganzen Leben habe ich nie in einem gemütlicheren Bett gelegen als hier in Dads Gästezimmer, auf der Matratze mit Visco-Schaum und unter der mollig warmen, aber federleichten Decke aus isländischen Eiderdaunen.

      Bei meinen Besuchen übernachte ich immer im Gästezimmer. Es ist ein kleiner Raum mit Bett, schmaler Kommode und winzigem Flachbildfernseher. Diesmal hat Dad, oder wahrscheinlich war es Rósa, aber versucht, ein bisschen Leben reinzubringen. Auf der Kommode stehen neuerdings zwei Teelichthalter aus moosgrünem Glas. Auf dem Bett lag eine Tagesdecke. Über dem Fernseher hängt jetzt ein gerahmter Kunstdruck von den Mumins.

      Es ist schön geworden, das muss ich zugeben. Es sieht nicht mehr unbedingt nach Gästezimmer aus, sondern mehr nach einem Zimmer, in dem jemand auf Dauer wohnt.

      Auf Dauer. Der Gedanke trifft mich wie ein Faustschlag, der die Panik wellenartig durch meinen Körper schwappen lässt und mich so aus meinem friedlichen Halbschlaf reißt. Zum ersten Mal wird mir wirklich klar: Hier bin ich jetzt zu Hause.

      Ich kann hören, wie Dad, Rósa und die Zwillinge ein Stockwerk höher Frühstück machen. Es wird in einer Pfanne gekratzt, es wird mit Besteck geklappert und gelacht. Es riecht nach Speck. Ein heimeliges Bombardement der Sinne, von dem ich mich irgendwie in die Defensive gedrängt fühle. In meinem alten Leben habe ich normalerweise bloß eine Schüssel Frühstücksflocken heruntergeschlungen, bevor ich zur Schule aufgebrochen bin, während Granny Jo ihren Kaffee meistens erst unterwegs getrunken hat. Meine Mum ist nur selten vor zwölf aus dem Bett gekommen.

      Andererseits glaube ich kaum, dass in diesem Haus immer so ausgiebig gefrühstückt wird. Da oben laufen die Vorbereitungen für meine Willkommensparty. Die soll um 7.30 Uhr steigen. Im Wochenablauf der Familie, der mit Arbeit, Schule und den überaus zahlreichen außerschulischen Aktivitäten der Zwillinge vollgestopft ist, hat sich kein anderes Zeitfenster finden lassen.

      Ich stehe auf, ziehe mich an und gehe um Punkt 7.30 Uhr hoch zur Küche. Zunächst bemerken mich die anderen nicht und von der Tür aus verschaffe ich mir einen Überblick. Rósa steht vor der lärmenden KitchenAid-Küchenmaschine, die kaum in Betrieb ist, aber als Ausdruck von Rósas Gespür für modernes Design stets auf der Arbeitsplatte thront. Dad platziert Erdbeeren in einer Glasschale mit breitem Stiel, einer Art Pokal. Ich erkenne, dass es sich um ein Produkt von Iittala handelt. Von dieser Designer-Glasschmiede ist Rósa derart begeistert, dass man das Haus fast mit deren Fertigungshalle verwechseln könnte. Jede Wette, dass die Teelichthalter in meinem Zimmer ebenfalls von Iittala sind.

      Die Zwillinge sitzen jeweils mit einem iPad in der Hand am Küchentisch. Und Alda ist auch da. Mein Herz macht einen Hüpfer. Endlich ein freundliches Gesicht. Alda ist Dads große Schwester und soweit ich es beurteilen kann, können sich die beiden nicht ausstehen. Vielleicht sind Mum und Alda deswegen trotz allem immer so gut miteinander ausgekommen.

      Alda, die bisher Zeitung gelesen hat, sieht hoch und bei meinem Anblick breitet sich auf ihrem komplett ungeschminkten Gesicht ein Strahlen aus.

      »Hey!«, ruft sie und springt auf. »Schaut mal, wer aufgewacht ist!«

      Sie stürmt auf mich zu und drückt mich so fest, dass ich definitiv eine Rippe krachen höre. Dabei haben wir uns erst vor ein paar Wochen gesehen. Aus Dads Familie ist nur Alda bei Mums Einäscherung aufgetaucht.

      »Wie geht es dir?«

      Ich zucke bloß mit den Schultern. Das ist leichter, als zu antworten: Meine Mum ist gerade gestorben und jetzt soll ich ausgerechnet hier am Abgrund der Hölle leben, aber ansonsten ist alles supi.

      »Morgen, Hannah«, sagt Rósa, stellt die Küchenmaschine ab und dreht sich zu mir, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. So lächelt man einen Wildfremden an, den man dabei ertappt, wie er einen auf der Straße anstarrt, damit er einen bloß nicht auch noch anspricht, sondern schön abhaut.

      Alda wendet sich an die Zwillinge. »Und, wie findet ihr es, dass eure große Schwester jetzt endlich bei euch wohnt?«

      Die Zwillinge machen sich nicht mal die Mühe, von ihren iPads aufzublicken, aber das sollte ich wohl nicht auf mich beziehen. Sie sind zwölf. Ísabella und Gabríel. Heimlich nenne ich sie Wednesday und Pugsley, denn sie sehen aus wie die Kinder aus der Addams Family, nur in blond. Schon als die beiden richtig klein waren, habe ich mich von ihnen immer ein bisschen eingeschüchtert gefühlt.

      »Ihr könnt froh sein, dass ihr jetzt eine große Schwester habt, die auf euch aufpasst«, fügt Alda hinzu, obwohl die Zwillinge ihr allem Anschein nach nicht zuhören. »So wie ich auf euren Dad aufpasse. Jeder braucht eine große Schwester.«

      Dad schnaubt. »Behauptest du.«

      Alda ignoriert ihn.

      Er stellt die Schale mit den Erdbeeren auf den Küchentisch. Dessen Oberfläche glänzt so weiß, dass es fast in den Augen wehtut. Das Zuhause von Dad und Rósa besteht praktisch nur aus weiß glänzenden Flächen, klaren Linien und Chrom. Der pure Minimalismus. Man fühlt sich eher wie in einem Ausstellungsraum als wie in einem Haus, in dem echte Menschen wohnen.

      Dad sieht mich an. »Willst du so ins Büro gehen?«

      Ich trage ein weißes T-Shirt, eine Lederjacke und eine Skinny-Jeans. In der Talkshow auf BBC habe ich neulich eine Journalistin in einem ähnlichen Outfit gesehen. Cooler Look, fand ich.

      »Und diese violette Strähne in deinen Haaren …«, setzt Dad erneut an. »Rósa hat gesagt, sie nimmt dich gerne zu ihrem Friseur mit, um das in Ordnung bringen zu lassen.«

      Jedes Mal, wenn ich Mut fasse und mir sage Hey, so schlimm wird es schon nicht werden, haut Dad so einen Spruch raus. Am liebsten würde ich ihn anschreien, aber nicht vor den Zwillingen.

      »Dir ist schon klar, dass die Strähne Absicht ist?« Ich zwinge mich zu lächeln. »Ich war ja nicht eines Tages spazieren und plötzlich hat mir eine Taube eine Ladung Intensivtönung auf den Kopf gekackt, die zufällig zu einem Streifen verlaufen ist.«

      Das tut Dad ständig. Dauernd mäkelt er an meinem Aussehen herum. Er spricht es nicht direkt aus, macht aber abfällige Bemerkungen oder mustert mich mit einem Ausdruck stillen Grauens.

      »Ganz wie du willst.« Damit wendet er sich ab, um die übrigen Speisen aufzutragen, als wäre das alles keine große Sache, als hätte ich auf einen harmlosen Vorschlag vollkommen überreagiert.

      Die violette Strähne hat mit meiner Suche nach mir selbst zu tun, genauer gesagt mit der Suche nach meinem eigenen Stil. In den letzten paar Jahren habe ich bewusst verschiedene Richtungen ausprobiert. Die erste war ein harter