Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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Fensterglasbrille von Topshop und zog einen karierten Rock und Kniestrümpfe an. Danach probierte ich etwas aus, das ich inzwischen »Clown-Look« nenne. Die Idee hatte ich von ein paar Leuten auf Instagram. Sie trugen einen Mischmasch aus Klamotten, der streng genommen überhaupt nicht zusammenpasste, aber insgesamt trotzdem ein fantastisches Outfit für Augenblicke ergab, in denen man lässig an Straßenecken posierte, egal ob auf Fotos in den Social Media oder im Now Magazine. Wenn man aber auf dem Bahnsteig stand und auf die nächste U-Bahn wartete, machte man sich mit diesem Look einfach nur lächerlich.

      Dad kehrt mit einem riesigen, mit Rührei und Räucherlachs beladenen Servierteller zum Tisch zurück.

      »Setzt euch doch.« Er stellt den Teller ab. »Ich habe bei der Arbeit angerufen und Bescheid gesagt, dass Hannah und ich eine Stunde später kommen.«

      Wow. Er gibt sich wirklich Mühe und das ist nicht ironisch gemeint. Dads Job ist sein Ein und Alles. Für ihn ist es ein großes Opfer, eine Stunde Arbeitszeit aufzugeben, höchstens vergleichbar mit einer Organspende. Dads und Rósas Streits drehen sich immer um seine Arbeit. Er ist nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause gekommen. Sie hat extra einen Babysitter besorgt, aber sie haben trotzdem die Aufführung von Mahlers Zweiter im Harpa-Konzerthaus verpasst (Dad hasst klassische Musik und ich habe den Verdacht, dass Rósa auch nicht viel davon hat, doch sie besteht darauf, jeden zweiten Monat dem Isländischen Sinfonieorchester zu lauschen, denn wer kultiviert und wichtig erscheinen will, trifft dort auf andere Leute, die kultiviert und wichtig erscheinen wollen).

      Ich setze mich neben Ísabella, die immer noch gebannt in ihr iPad glotzt. Alda nimmt gegenüber von mir Platz. Dad trägt immer mehr Essbares auf: Schweineleberpastete, Brotaufstrich aus Lammfleisch, Speck, Skyr mit Blaubeeren, Müsli. Auf isländischen Partys muss es immer zehnmal so viel geben, wie es braucht, um alle Gäste satt zu bekommen.

      »Und, Alda, findest du, ich sollte Rósas Angebot annehmen und sie zu ihrem Friseur begleiten?« Um Dads große Geste zu würdigen, schlage ich einen versöhnlichen, fröhlichen Ton an.

      Alda zuckt nur mit den Schultern. »Mach ruhig. Oder auch nicht. Ist egal.« Wenn man sich den struppigen grauen Haarwust, der ihr vom Kopf bis zur Hüfte hängt, ihre senffarbene Strickweste und ihre knittrige Bluse so ansieht, war sie wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie beim Friseur oder in einem Geschäft, in dem kein Second-Hand-Kram für den guten Zweck verkauft wird.

      »Ich meine, ich will ja hier reinpassen.« Was ich zur Hälfte ehrlich meine, was zur anderen Hälfte aber Dads unbedingten Willen zur Konformität befriedigen soll. »Vielleicht sollte ich das Ganze als Chance sehen, mich neu zu erfinden. Hier kennt mich niemand. Ich kann sein, wer ich will.«

      Alda stöhnt auf. »Warum sind die jungen Leute von heute alle so besessen davon, wer sie sind? Statt immer irgendwer sein zu wollen, könntest du doch einfach mal nur sein. Lass deine verschiedenen Ichs durch dich fließen. Lass sie nacheinander zum Vorschein kommen, von alleine, ganz natürlich, wenn ihnen danach ist. Du darfst nicht ständig versuchen, irgendwer zu sein. Du musst lernen, niemand zu sein, das ist die Kunst.«

      Alda greift nach der braunen Lederaktentasche auf dem Boden. Die hat sie, seit ich denken kann, und wüsste ich es nicht besser, würde ich ihr unterstellen, damit ihren Status signalisieren zu wollen: Professorin der Geschichte an der Universität Island. Aber natürlich hat sie sich die Tasche ohne Hintergedanken ausgesucht. Für Alda haben Äußerlichkeiten, wie Kleidung und Accessoires, keine Bedeutung.

      Aus einem silbernen Etui nimmt sie eine Zigarette und steckt sie zwischen die Lippen. Sie kommt aber nicht dazu, sie anzuzünden – Dad schreitet ein.

      »Wie oft denn noch? Bei uns wird nicht geraucht.«

      »Ist ja gut.«

      Dad trägt die Schlagsahne, die Rósa vorhin gemacht hat, zum Tisch. »Dass du überhaupt noch rauchst! Hast du nicht mitbekommen, welches Jahrhundert wir haben? Hat dir niemand gesagt, dass man daran sterben kann?«

      Alda zieht eine Grimasse. »Du redest wie Dad.«

      »Woher willst du wissen, wie Dad heutzutage redet? Wann hast du unsere Eltern das letzte Mal besucht?«

      »Halt’s Maul, Eiríkur.«

      Mein Körper verkrampft sich. Völlig grundlos, wie ich weiß. Das ist noch gar nichts. Das ist ein ganz normales Gespräch zwischen Dad und Alda. Und trotzdem ist da dieses Gefühl, weil ich bin, wo ich bin, und wegen der Erinnerung an das ewige Geschrei zwischen meinen Eltern, als ihre Liebe zu Ende ging und Mum und ich von hier wegzogen, von Island zurück nach London, ich mit meinen vier Jahren.

      Ich muss der angespannten Atmosphäre entkommen. Als Vorwand schnappe ich mir ein leeres Glas vom gedeckten Tisch und stehe auf.

      »Ich brauche was zu trinken.«

      Ich gehe zum Wasserhahn und hole mir etwas. Doch auf dem Rückweg rutscht mir das elegant geformte Glas irgendwie durch die Finger und landet auf dem Boden, wo es mit einem Knall in eine Million Stückchen zerschellt.

      Jetzt habe ich meinen Willen: Es wird still. Alle sehen mich an. Dad, Alda, Rósa, die vor der Kaffeemaschine steht, einen Löffel frisch gemahlenen Kaffee in der knapp über dem Filterhalter erstarrten Hand. Sogar die Zwillinge blicken von ihren iPads auf.

      »Tut mir leid, es tut mir so leid.« Überall auf dem grob gemaserten Parkettboden aus hübscher Weißeiche haben sich Wasser und Scherben verteilt. Gebückt klaube ich die ersten Teile mit spitzen Fingern auf und lege sie in meine Handfläche.

      »Nicht!« Rósa eilt zu mir. »Du schneidest dich noch.« Sie dreht meine Hand herum, das aufgesammelte Glas fällt wieder herunter. »Ich hole den Staubsauger.«

      Ich weiß, was sie alle denken: Das ist der Fluch.

      Ich kenne die Symptome: Halluzinationen, Selbsttäuschung, Verwirrtheit, Rückzug aus dem sozialen Umfeld, Antriebslosigkeit, irrationales Denken, Wahnvorstellungen, Stimmen im Kopf. Ich kenne die Fakten und Statistiken: Im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter liegt die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs des Fluchs am höchsten. Bei 40 Prozent der Männer und 23 Prozent der Frauen, die vom Fluch betroffen sind, tritt er noch vor dem 19. Geburtstag in Erscheinung. Und über die Ursachen weiß ich ebenfalls Bescheid: Der Fluch kann sowohl vererbt als auch durch Umweltbedingungen begünstigt werden.

      Doch ich kann noch so lange recherchieren – ob ich verflucht bin oder nicht, werde ich so nicht herausfinden.

      Als ich vom Highbury College geflogen bin, hat Dad es zwar nicht laut gesagt, aber er hat es ohne Zweifel gedacht: Es ist so weit. Es geht los. Der Schule verwiesen zu werden, genau so ein Desaster wäre auch Mum zuzutrauen gewesen.

      Dass Mum so spontan und sprunghaft war, dass man bei ihr immer mit allem rechnen musste, das hatte Dad so gut gefallen, als sie sich kennengelernt hatten. Später jagte sie ihm deswegen Angst ein. Noch später hasste er sie deswegen. So hat Granny Jo es mir zumindest geschildert.

      Rósa kehrt mit dem Staubsauger zurück.

      Ich starre auf die Glasscherben in der Wasserpfütze. Sie sehen aus wie Eisschollen auf einem weiten Meer. Auch Tollpatschigkeit ist ein erstes Anzeichen des Fluchs.

      Mit einem riesigen Knäuel Küchenpapier wischt Rósa das Wasser auf.

      Dad streckt die Hand nach dem Radio am Tischende aus, schaltet es ein.

      »Dad«, sagt Ísabella mit nöliger Stimme, »kannst du mir das neue iPhone kaufen? Sandra hat das neue iPhone schon und Guðrún auch.«

      Gabriel fischt eine Erdbeere aus der Glasschale mit Stiel. »Wenn Ísabella ein neues Handy kriegt, will ich ein neues Fahrrad.«

      »Schhhh!« Zischend zeigt Dad auf das Radio. Es ist acht Uhr, die Nachrichten fangen an. Wenn Dad Nachrichten hört, wird nicht gesprochen.

      Mein Hals schnürt sich zu. Von der merkwürdigen Geruchsmixtur aus süßen Erdbeeren und rauchigem, ein bisschen angebranntem Speck wird mir übel. Ein leichtes Brennen in meiner rechten Handfläche. Ich öffne die Hand. Sie blutet. Ich habe