Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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Menschen bilden sich ein, sie wären Social-Media-Stars. Wieso soll ich ausgerechnet von der gehört haben?«

      »Na ja, sie ist genau wie du …«

      Ist sie sicher nicht.

      »Sie kommt aus Großbritannien, ist aber gerade nach Island gezogen.«

      Mein Blick zuckt zu Dad. Da ist doch was faul. Das stinkt zum Himmel.

      »Diese Imogen macht bei Cool Britannia 2.0 mit, einer Konferenz an der britischen Botschaft zur Stärkung der kulturellen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Rest der Welt. Sie spricht da über Mode oder Make-up oder Selbstverwirklichung … irgendwas in der Richtung.«

      Irgendwas in der Richtung?

      »Und dafür, dass wir ein Interview mit ihr bringen, hat sie sich bereit erklärt, dir unter die Arme zu greifen.«

      Da ist sie schon, die Ursache des fauligen Geruchs: Mein Dad hat Hintergedanken und die stinken schlimmer als Harðfiskur, diese isländische Delikatesse aus getrocknetem Fisch, die den Duft eines alten Müllsacks verströmt.

      »Sie soll mir wobei unter die Arme greifen?«

      »Beim Einleben. Beim Ankommen in einem neuen Land.«

      »Ich brauche keinen Babysitter. Ich habe jeden Sommer meines Lebens in Island verbracht.«

      Das will Dad mit einem lässigen Schulterzucken abtun, es wirkt aber wahnsinnig steif und bemüht. Ihm ist durchaus bewusst, wie dumm sein Plan ist. »Es ist alles vorbereitet. Das Interview soll morgen über die Bühne gehen. Dann kannst du mal mit jemandem über alles reden. Nutz die Chance.«

      »Nicht zu fassen. Du hast irgendeine blöde Social-Media-Tussi bestochen, sich mit mir zu unterhalten? Es ist kaum zu glauben.«

      »Mein Gott, ich wollte dir einen Gefallen tun.«

      »Dann lass mich ein richtiges Interview führen. Das wäre was gewesen.«

      »Das ist ein richtiges Interview.«

      »Ist es nicht. Es ist Werbung. Genau genommen bezahlt diese Imogen dafür, dass du ihren Auftritt in deiner Zeitung promotest, zwar nicht mit echtem Geld, aber mit einem Beratungsgespräch – und deshalb ist dieses Interview kein echter Journalismus, sondern eine Werbeanzeige.«

      »Warum musst du immer alles so verdrehen?«

      »Ist es nicht verboten, Werbung als echten journalistischen Inhalt auszugeben? Also zu Hause in Großbritannien darf man das nicht.«

      Jetzt ist es Dad, der sich krachend gegen die Lehne fallen lässt. »Wie du das immer wieder hinkriegst, Hannah.«

      Der Schneeregen ist zu richtigem Schnee geworden. Die Scheibenwischer schrubben wie wild über das Glas und kommen trotzdem kaum hinterher.

      »Was? Was kriege ich immer wieder hin?«

      Dads Gesicht färbt sich rot. »Du kriegst es immer wieder hin, dass sich alle schlecht fühlen.«

      Uff. Das ist – selbst für seine Verhältnisse – hart. »Willst du jetzt wirklich darüber reden? Ich würd’s mir überlegen.« Irgendwo in meinem Hinterkopf droht der gesammelte Giftmüll aus 16 Jahren Bitterkeit zu explodieren.

      »Worüber reden?«

      Ich weiß genau, was ich ihm zu sagen habe. Ich habe meinen Vortrag ewig geübt. »Dass du nicht mit dir selbst klarkommst, ist nicht meine Schuld.«

      Ich zögere. Will ich wirklich so in mein sogenanntes neues Leben aufbrechen? Ganz klar: Nein, will ich nicht. Doch meine Worte sind wie ein Felsbrocken, der einen Abhang hinunterrollt: Sie haben sich zu ihrem Ziel aufgemacht und ganz egal, was sie unterwegs zerquetschen, es steht nicht mehr in meiner Macht, sie aufzuhalten.

      »Auch wenn dich die bloße Tatsache, dass es mich gibt, an deine Unzulänglichkeiten, deine moralischen Defizite und deine Selbstsucht erinnert, hast du kein Recht, mir die Schuld daran zu geben. Mum zu verlassen, war deine Entscheidung. Mich mit ihrer Scheiße allein zu lassen, war deine Entscheidung. Dafür bist nur du verantwortlich. Du fühlst dich schuldig? Dann mach das gefälligst mit deinem Gewissen aus und lass mich in Ruhe.«

      Es ist raus. Endlich. Eine Mischung aus Wut, Angst und Erleichterung lässt mein Herz pochen.

      Jeden Moment wird Dad mich anschnauzen.

      Oder auch nicht.

      Sekunden verstreichen. Werden zu Minuten. Scheiße. Die Stille im Wagen dröhnt mir in den Ohren. Ich sehne mich beinahe danach, angeschnauzt zu werden.

      Bin ich zu weit gegangen? In Gedanken lasse ich meinen Vortrag noch einmal ablaufen. Und noch mal und noch mal. Mit jeder Wiederholung wirken meine Worte lauter und schärfer, gehässiger. Die ersten Schuldgefühle regen sich, aber warum eigentlich? Wieso sollte ich mich schuldig fühlen?

      Ich ertrage Dads ausdruckslosen Blick nicht mehr. Das ist typisch mein Vater. Nie stellt er sich den Problemen. Immer wartet er ab, während sich das Unausgesprochene aufstaut, während es gammelt und fault und zu einem Höllengestank wird, der sich nie wieder aus der Welt schaffen lässt.

      Will er das? Kann er haben. Ich wende mich ab, drehe mich zum Seitenfenster.

      Ein Panorama, das kaum weniger hart und kalt ist als Dads Schweigen, nimmt mich in Empfang. Es heißt manchmal, die Fahrt vom Flughafen Keflavík nach Reykjavík führe durch eine magische Landschaft, man fühle sich wie auf den Mond versetzt (dieser Spruch kann eigentlich nur aufs Konto des Fremdenverkehrsamts gehen). Ich sehe bloß eine Einöde aus rauen, kahlen Lavafeldern, die Hinterlassenschaft von Vulkanausbrüchen vor Hunderten von Jahren.

      Dass hier überhaupt jemand lebt, muss man als Wunder bezeichnen. Seit vor über eintausend Jahren die ersten Menschen nach Island gekommen sind, hat sich die Insel redlich bemüht, sie wieder umzubringen. Im Lauf der Zeit ist sie immer und immer wieder nur knapp daran gescheitert, den Homo sapiens durch eisiges Wetter, brodelnde Lava, Erdbeben, Überschwemmungen, Lawinen oder Seuchen von diesem Brocken aus Vulkangestein knapp unter dem nördlichen Polarkreis zu vertreiben. Im 18. Jahrhundert, nachdem eine Reihe von Naturkatastrophen einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausgelöscht hatte, hat man sogar darüber nachgedacht, das ganze Land nach Dänemark zu verlegen.

      Hätte man das doch nur getan.

      Dad schweigt stur. Was soll ich hier eigentlich? Hier ist für mich nichts zu holen. Niemand will mich hier haben. Dad nicht. Rósa bestimmt nicht. Die Zwillinge nehmen kaum Notiz von mir und Grandma Erla und Grandpa Bjarni werden bei meinen Besuchen jedes Mal etwas blass um die Nase. Ich glaube, in mir sehen sie meine Mum. Und für sie wird Mum immer die Frau sein, die um ein Haar das Leben ihres Sohns zerstört hätte.

      Inzwischen fällt der Schnee dichter und dichter. In Island ist Schnee eine echte Gefahr. Selbst auf den Straßen der Hauptstadt erfrieren immer noch Menschen.

      Der Verkehr verlangsamt sich. Höchstens einen Meter vor uns, durch die wirbelnden Flocken nur schemenhaft zu erkennen, taucht ein Auto auf.

      »Diese verdammten Touristen«, knurrt Dad und steigt auf die Bremse. Aus 130 Stundenkilometern werden binnen Sekunden 30. »Wenn sie keine Ahnung haben, wie man bei Schnee fährt, wieso nehmen sie nicht das Shuttle?«

      Die Wange ans Fenster geschmiegt, lasse ich den Blick über die träge vorwärtskriechende Autoschlange schweifen. Na super. Jetzt dauert die Fahrt des Grauens noch länger.

      Ein paar Wagen weiter vorne entdecke ich etwas am Straßenrand. Ein blaues Blinken. Ich würde sagen, in diesem Fall stockt der Verkehr nicht wegen der mangelnden Fahrkünste irgendwelcher Touristen.

      Wir rollen weiter. Jetzt sind die Streifenwagen klar zu erkennen, gleich drei davon parken am Straßenrand. Die Luft ist erfüllt vom Heulen einer Sirene. Aus der Gegenrichtung nähert sich ein Rettungswagen dem Ort des Geschehens.

      In Island gibt es kaum Verbrechen, aber jetzt ist mal was los. Ich zücke mein Handy und schieße ein Foto.