Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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In Todesangst klammere ich mich ans Armaturenbrett.

      Genauso abrupt hält Dad an, stellt den Schalthebel auf Parken und öffnet die Tür. Den Motor lässt er laufen.

      Ich wundere mich. »Wohin willst du?«

      »Bin gleich wieder da.« Er knallt die Tür zu.

      Ich beobachte, wie er zu den Streifenwagen eilt. Er muss sich gegen heftigen Wind stemmen. Es sieht aus, als wollte er mit dem Kopf durch eine Backsteinwand.

      Mein Blick fällt auf vier Polizisten und zwei Sanitäter, die gemeinsam eine Trage über das Lavafeld zur Straße schleppen. Ohne weiter darüber nachzudenken, ziehe ich am Türöffner und springe aus dem Wagen. Eine Windbö presst mir die Luft ins Gesicht, keuchend renne ich Dad hinterher. Seine Haare, normalerweise oberhalb der sauber rasierten Schläfen akkurat zur Seite gekämmt, wehen trotz der großen Portion Gel, die er sich bestimmt immer noch jeden Morgen genehmigt, wild durcheinander.

      Ich habe ihn fast eingeholt, da steigt vor ihm eine Frau aus einem der blau blinkenden Wagen. Sie trägt eine schwarze Daunenjacke mit dem Wappen der isländischen Polizei am Oberarm, einem gelben Stern.

      »Zurück.« Sie fuchtelt mit den Händen. Ihr rundes Gesicht hat sich in der Kälte gerötet, ihr blonder Pferdeschwanz flattert im Wind.

      Dad hört nicht auf sie, er hört auf niemanden. »Was ist hier vorgefallen?«

      »Bitte einen Schritt zurücktreten, Sir. Das gilt auch für dich, Miss.«

      Dad fährt herum. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst im Auto bleiben.«

      Wieso soll ich auf dich hören, wenn du nicht mal auf die Polizei hörst? Aus meiner Sicht wäre das eine absolut schlüssige Argumentation.

      Vielleicht kann ich Dad ablenken, indem ich ihn auf die Truppe mit der Trage aufmerksam mache. »Schau mal.«

      Es klappt, er wendet sich wieder an die Polizistin. »Hat es hier einen Unfall gegeben?«

      »Bitte zurücktreten, Sir«, wiederholt sie bloß.

      Die Polizisten und Sanitäter klettern die geschotterte Straßenböschung hinauf, über den frischen, lockeren Schnee. Auf der Trage liegt jemand, abgedeckt mit einem burgunderroten Tuch. Die Polizistin hat alle Hände voll zu tun, Dad aufzuhalten. Ich nutze die Gelegenheit und husche an ihm und ihr vorbei zu ihren Kollegen, die sich immer noch die Steigung hinaufquälen.

      »Hey!«, ruft die Polizistin.

      So unauffällig wie möglich schiebe ich die Hand in die Tasche, ziehe mein Handy hervor und knipse ein paar Fotos von den Leuten mit der Trage.

      Die Frau reißt mich an der Schulter herum. »Entweder ihr zwei verschwindet sofort von hier oder ich lasse euch hier und jetzt festnehmen.«

      Ich ernte einen bösen Blick von Dad, als dürften wir nur meinetwegen nicht bleiben, und wir trollen uns.

      Zurück im Auto, fischt Dad sein Handy aus der Innentasche seines dunkelblauen Slim-Fit-Sakkos. Man kann nicht behaupten, dass er dem Wetter entsprechend gekleidet wäre, aber darauf achtet hier kein Mensch. Sonst müssten die Isländer das ganze Jahr über in Daunenjacken und Skihosen herumlaufen, und so modebewusst, wie sie sind, siegt im Zweifel immer die Eitelkeit über den Komfort. Wer in Wanderschuhen durch Reykjavík stiefelt, kann nur ein Tourist sein. Ich habe Rósa auf 15 Zentimeter hohen Absätzen über spiegelglattes Eis spazieren sehen.

      »Eiríkur hier«, meldet sich Dad am Handy. »Ich bin auf der Reykjanesbraut unterwegs. Hier ist Polizei. Sind bei euch irgendwelche entsprechenden Meldungen reingekommen?«

      Am anderen Ende sagt irgendjemand irgendetwas. Ich spitze die Ohren, der Ton ist aber zu leise. Wäre er lauter, würde ich die Antwort verstehen, denn ich spreche fließend Isländisch, Dad und ich unterhalten uns immer in der Landessprache. Manchmal ärgere ich mich fast darüber, dass ich das kann. Wie viel kostbaren Platz diese Sprache, die nur rund 300.000 Menschen sprechen, in meinem Gehirn einnimmt! Es wäre so viel nützlicher, Deutsch oder Spanisch zu können, oder meinetwegen Chinesisch. Andererseits wurde ich nun für meine Verbrechen zu einem Leben in der Verbannung verurteilt und hierhergeschickt wie ein ungezogener Russe nach Sibirien und da ist es vielleicht doch ganz praktisch, mit den Einheimischen kommunizieren zu können.

      »Okay«, erwidert Dad. »Ruf unseren Kontakt bei der Hauptstadtpolizei an. Ich bin in einer Stunde wieder im Büro, hoffentlich.«

      Er wird also nicht den Tag mit mir verbringen, mir dabei helfen, mich einzurichten, mich in den Arm nehmen und mir versprechen, dass alles gut wird und dass er immer für mich da sein wird. Wer hätte das gedacht.

      »Halt mich auf dem Laufenden.« Damit legt er auf.

      Dad legt den Gang ein und steuert in einer scharfen Kurve zur Straße.

      Wir reihen uns wieder in den zähen Verkehr ein. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und öffne die Fotos von den Leuten mit der Trage.

      »Und, wissen die was?« Jetzt kommen wir direkt an dem abgesperrten Bereich am Straßenrand vorbei, also blicke ich noch einmal von meinem Handy auf. Drüben schieben Polizisten und Sanitäter die Trage in den Rettungswagen.

      »Nein.«

      »Was glaubst du, was da passiert ist?«

      »Wahrscheinlich hat sich nur irgendein Tourist wehgetan. Hat angehalten, um Fotos zu machen, hat sich zu weit rausgewagt und ist auf dem Eis ausgerutscht.«

      »Aber da war kein Auto.«

      »Was?«

      »An der Straße stand kein Auto. Da waren nur die Polizei und der Rettungswagen. Und ein Tourist wäre doch mit einem Mietwagen unterwegs gewesen, oder?«

      Dad wirft einen Blick über die Schulter.

      Seine Theorie hat sogar noch andere Schwachstellen. Ich begutachte noch einmal meine Handyfotos. Zoome die Trage heran. Das burgunderrote Tuch wurde über ihre ganze Länge gebreitet. Von dem Menschen darunter ist nicht das Geringste zu sehen. So deckt man keinen Verletzten zu. So deckt man eine Leiche ab.

      Ich wische zum nächsten Foto. Auf den ersten Blick unterscheidet es sich nicht vom ersten. Dann fällt mir ganz am Rand des roten Tuchs etwas Weißes auf. Irgendetwas guckt darunter hervor. Ich vergrößere es. Der gemusterten Webkante nach zu urteilen ist es ein Handtuchzipfel. Und da sehe ich sie. Mir kommt die Galle hoch. Unter dem Handtuch sehe ich dunkelblaue Finger hervorragen. So ergeht es einem also, wenn man erfriert?

      Der Verkehr fließt allmählich wieder im üblichen Tempo. Durch die Fahrbewegung wird mir immer schlechter, je länger ich auf das Foto starre. Ich stecke das Handy ein, doch die blauen Finger kriege ich nicht aus dem Kopf. Mein Gehirn ist längst dabei, immer neue Erklärungen für diesen Vorfall zu konstruieren. Und wie ein Suchhund, der sich hechelnd, sabbernd, atemlos auf die Jagd macht, wird es nicht aufgeben, bis es am Ziel ist.

      Statistisch betrachtet hat es fast immer denselben Grund, wenn sich hierzulande so viel Polizei an einem Ort versammelt: den tragischen Kältetod eines verirrten Touristen. Doch irgendetwas stört mich an der Sache. Vielleicht, dass kein Suchtrupp zu sehen war, kein Einziger der Freiwilligen, die normalerweise zuerst verständigt werden, wenn Gäste auf Abwege geraten. Oder dass die Polizistin so ein großes Interesse daran hatte, uns schleunigst vom Ort des Geschehens zu entfernen.

      Das Verlangen zu wissen, wie es wirklich war, ergreift Besitz von mir. Es ist ein Gefühl, das ich kenne und liebe. Ich spüre einen Energieschub, als käme ich direkt aus dem Fitnessstudio (nicht dass ich jemals eines betreten hätte). Für einen Moment, und wenn er nur von kurzer Dauer ist, bin ich wieder ich selbst, mein wahres Ich, bin ich genau da, wo ich hingehöre, und tue ich genau das, was ich kann.

      Woher kommt dieser Drang, immer alles wissen zu wollen? Warum gibt es mir so viel, die Wahrheit aufzudecken?

      Ob es wirklich Mord gewesen sein kann? Wohl kaum. Praktisch nirgendwo auf der Welt ist die Mordrate so niedrig wie hier. In Island wird so gut wie nie ein Mensch umgebracht.