Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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bei London Analytica. Ich erzähle Ihnen jetzt etwas über die Technik hinter unserer täglichen Arbeit – die Zaubertricks hinter der Magie, wenn man so will.«

      Immer noch kein Lächeln, nicht mal eine Andeutung.

      »In der Psychologie hat man erkannt, dass die Persönlichkeit des Menschen durch fünf voneinander unabhängige Dimensionen ausgeleuchtet werden kann: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Das sind die sogenannten Big Five – beziehungsweise die fünf Aspekte des Fünf-Faktoren-Modells, kurz FFM.«

      Imogen kennt ihren Text Wort für Wort auswendig. Sie führt ihren Teil der Präsentation auf wie eine Schauspielerin, die eine selbstbewusste, aufstrebende junge Frau verkörpert, ausgestattet mit einer fast altmodischen Klugheit, aber dennoch mit dem Finger am Puls der Zeit. Manchmal hat sie das Gefühl, von früh bis spät als Figur auf einer Bühne durch ihr Leben zu laufen, in der Rolle der jungen Frau, die alles hat und der keiner etwas vormachen kann. Dabei hat sie keine Ahnung, was sie hier eigentlich tut, wohin sie will oder was sie an diesem Ort soll.

      »Bis vor Kurzem hat sich zielgerichtete Werbung ausschließlich an demografischen Daten orientiert. Diese Praxis, ganze Marketingkampagnen an demografischen Kriterien auszurichten und etwa alle Frauen nur aufgrund ihres Geschlechts mit ein und derselben Botschaft anzusprechen, ist jedoch schlicht lächerlich.

      Im Gegensatz zu den meisten Werbeagenturen, die sich zur Vermittlung der Botschaften ihrer Kunden immer noch der Demografie bedienen, setzen wir auf Psychometrie.

      Wir von London Analytica haben anhand des FFM ein einzigartiges Modell zur Berechnung der Persönlichkeit fast jedes einzelnen Verbrauchers im Vereinigten Königreich entwickelt. Wir kennen die Träume und Hoffnungen, die Ängste und Bedürfnisse der Menschen und können ihr mutmaßliches Verhalten voraussagen. Also …«

      Imogen legt eine Atempause ein. Nur eine kurze, sie will den Vortrag schnell hinter sich bringen. »Jetzt stellen Sie sich wahrscheinlich zwei Fragen: Wie? Und wieso?

      Beginnen wir mit dem Wie. Unser Modell basiert auf handfester wissenschaftlicher Forschung. Mithilfe von Big Data vermessen wir den digitalen Fußabdruck einer Person und schließen daraus auf deren Persönlichkeit. Aus simpelsten Handlungen im Internet kann man erstaunlich präzise Schlüsse ziehen: Bei männlichen Facebook-Nutzern ist ein Like für die Musikgruppe Wu-Tang Clan etwa ein sehr deutlicher Hinweis auf eine heterosexuelle Orientierung. Wer der Sängerin Lady Gaga folgt, besitzt höchstwahrscheinlich ein extrovertiertes Wesen, während Freunde der Philosophie eher introvertiert sind.«

      So perplex, wie die beiden Kunden dreinschauen, haben sie noch nie vom Wu-Tang Clan oder von Lady Gaga gehört.

      »Einzelne Informationen reichen nicht aus, um eine zuverlässige Aussage zu treffen. Durch die Kombination von zehn, Hunderten oder Tausenden von Informationen erhält man jedoch Ergebnisse von bemerkenswerter Qualität.

      Wie sich herausgestellt hat, kann man eine Person allein auf der Grundlage von zehn Facebook-Likes besser einschätzen als ein durchschnittlicher Arbeitskollege. Bei 70 Likes schlägt man sich besser als die Freunde der betreffenden Person. Bei 150: besser als die Eltern. Bei 300: besser als der Partner oder die Partnerin. Bei noch mehr Likes kann man sogar das übertreffen, was die Person über sich selbst zu wissen glaubt.«

      Einer der Anzugträger fängt an zu husten. Imogen muss um die Aufmerksamkeit ihres Publikums kämpfen. Aber sie hat ohnehin nur ein einziges Ass im Ärmel: noch mehr aufgesetzte Begeisterung.

      »Vielleicht fragen Sie sich jetzt, was das Vermessen der Persönlichkeit einzelner Personen mit Ihrem Geschäft zu tun haben soll – dem Verkauf von tiefgefrorenem Fisch. Ich sage es Ihnen: Alles!« Imogen merkt, dass sie in die schrille Stimmlage einer überdrehten Zeichentrickfigur verfallen ist. Aber was bleibt ihr anderes übrig?

      »Und wieso? Weil sich das Verfahren umkehren lässt. Man kann nicht nur anhand von Datensätzen Persönlichkeitsprofile erstellen. Man kann auch in Datensätzen nach bestimmten Profilen suchen. Mithilfe des Modells, das wir hier bei London Analytica erarbeitet haben, können wir uns gezielt nach überlasteten Müttern mit Schlafmangel umschauen und diese mit einer Botschaft ansprechen: ›Das Abendessen von morgen ist kein Grund, heute schlecht zu schlafen.‹ Oder mit einer anderen Message auf introvertierte, fettleibige Männer abzielen: ›Schmeckt wie im Imbiss um die Ecke, nur bei dir zu Hause.‹«.

      Der eine Kunde hustet wieder. Lauter diesmal. Sein dickes Gesicht färbt sich rötlich.

      Imogen ist sich unsicher, wie sie reagieren soll. Sie entscheidet sich fürs Weitermachen. »Im Kern haben wir mit unserem Modell also eine Suchmaschine für Menschen entwickelt und die ermöglicht es –«

      Der hustende Kunde hebt die Hand. »Entschuldigen Sie.« Noch ein Huster.

      Imogen ist verstummt. Sie glaubt, er hat eine Frage. Hat er aber nicht. Beziehungsweise doch – aber es ist eine andere Frage, als sie erwartet hat.

      »Wären Sie so lieb, mir ein Glas Wasser einzuschenken?«

      Es ist, als würde sich die Welt um Imogen herum verlangsamen, als hätte sich das sogenannte Aquarium in ein echtes verwandelt. Sie will den Arm heben, kann ihn aber kaum bewegen. Ihr Gehirn befiehlt ihr, einen Schritt nach vorne zu machen, ihr Körper gehorcht aber nicht. Sie öffnet den Mund, hört aber keinen Ton. Sie ertrinkt.

      Sie gibt sich Mühe, versucht, sich zu beruhigen. Die offensichtlich sündhaft teuren Mineralwasserflaschen – Voss Artesian Water – stehen direkt vor dem Kunden. Die Gläser ebenfalls. Er könnte ohne Weiteres zugreifen und sich selbst einschenken. Imogen ist keine Bedienung. Sie ist nicht zum Kaffeekochen bei London Analytica. Sie ist Social-Media-Kampagnenmanagerin, verdammt noch mal. Sie wurde nicht angestellt, um arroganten alten Säcken, die selbst zu faul dafür sind, ein Getränk zu kredenzen.

      Der Konferenzraum rotiert vor ihren Augen. Oder ist es sie selbst, die sich dreht, gerät sie wieder in die Abwärtsspirale? Beruhig dich, Imogen. Es ist doch halb so wild. Er will doch nur ein Glas Wasser.

      Alle starren sie an. Innerlich schäumt Ms Kendrick bestimmt schon.

      Durch die Aquariumswände sieht Imogen, wie einige Kollegen das Großraumbüro verlassen. Mittagspause. Am Rand ihres Blickfelds entdeckt sie jemanden, der unmittelbar vor dem verglasten Konferenzraum stehen bleibt. Nur, um sie anzuglotzen, um nicht zu verpassen, wie sie sich zum Affen macht? Gucken die da draußen etwa alle zu und lachen sich kaputt? Weil sie sowieso der Meinung sind, dass Imogen nur wegen ihres Aussehens eingestellt wurde, wegen ihres langen dunklen Haars, ihrer schmalen Arme und ihres Dekolletés? Dass sie nie die nötigen Qualifikationen hatte und deshalb nur auf ganzer Linie versagen kann?

      Hör auf damit, Imogen. Wie sie weiß, geht es hier längst nicht nur um den Kunden und seine Bitte um Wasser. Wie immer geht es um die E-Mail, um früher, um das Monster.

      Kurz nach dem Öffnen der E-Mail ist ihr klar geworden, dass diese gar nicht für sie gedacht war.

      Als sie die Stelle bei London Analytica bekommen hat, der heißesten Agentur für datengetriebenes Marketing weit und breit, hielt Imogen es für einen Wink des Schicksals, dass die Gründerin den gleichen Vornamen hat wie sie. Kein Zweifel, dieser Job war ihre Bestimmung, Teil eines großen göttlichen Plans. Es war die richtige Entscheidung, ihr Studium der Psychologie und Verhaltensforschung nach nur einem Jahr wieder abzubrechen. Es war die richtige Entscheidung, ihr Zuhause in Cambridge hinter sich zu lassen und mit drei Fremden in ein baufälliges Haus in London zu ziehen. Es war die richtige Entscheidung, den Plan aufzugeben, den sie ihr Leben lang verfolgt hatte, und, statt Kinderpsychologin zu werden, eine Karriere im Marketing anzustreben. Und als Influencerin zu arbeiten, um ihr Einkommen aufzubessern und ihren Namen bekannter zu machen, war auch die richtige Entscheidung.

      Wie hätte sie ahnen können, dass sie 19 Jahre, nachdem ihre Eltern ihre neugeborene Tochter aus einer Laune heraus Imogen genannt hatten, nur wegen einer eigentlich bedeutungslosen Namensgleichheit plötzlich den Boden unter den Füßen verlieren sollte?

      Die E-Mail war nicht für sie