Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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waren sich absolut einig: Mit ihrem Vorhaben richtete sich die Stadtverwaltung wie üblich allein nach den Interessen von Bauunternehmern, die nur in Beton und Geld dachten, und der Park sollte lieber so bleiben, wie er war.

      Ich setzte mich neben Granny.

      »Und wie geht es dir, Hannah?«, fragte der Pfarrer, nachdem er einen Schluck Tee getrunken hatte.

      Granny richtete sich kerzengerade auf und reckte die Nase in die Höhe – die wachsame Alarmbereitschaft einer Hyäne, die den ersten Hauch eines Tierkadavers wittert.

      Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte nicht reden.

      Als der Pfarrer sich nach vorne lehnte, sah man die kahle Stelle oben auf seinem Kopf. »Auch wenn sie nicht mehr da ist, wird sie trotzdem immer bei dir –«

      »Tut mir leid«, unterbrach Granny Jo ihn. »Ich will ja nicht unhöflich sein …« (Das war eine glatte Lüge. Sie nahm aus Prinzip kein Blatt vor den Mund und hatte großen Spaß daran, andere Leute durch ihr forsches Auftreten aus dem Konzept zu bringen.) »… aber in meinem Haus kann ich solches Gerede leider nicht dulden.«

      Der Blick des Pfarrers wanderte von mir zu Granny und er hob die Augenbrauen. Eingeschüchtert wirkte er nicht, kein bisschen. »Was für Gerede meinen Sie?«

      »Gerede über Dinge, über Orte, die es nicht gibt.« Granny Jos Miene verhärtete sich. »Hören Sie, Reverend –«

      »Nennen Sie mich Dom.«

      »Okay, Dom. Hier bei uns wird der Tod nicht kleingeredet, als wäre er kein Abschied für immer. Der Tod hat eine Funktion. ›Er ist der dunkle Hintergrund, ohne den man in einem Spiegel nicht das Geringste sehen würde‹, hat ein kluger Mann einmal gesagt.«

      Ich wusste nicht, wie oft ich das schon gehört hatte, irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen. Und ich konnte mir denken, wie es weiterging.

      »Die Endlichkeit des Lebens verleiht ihm erst seinen Wert. Sie schärft den Blick und treibt uns dazu, alles aus unserem Dasein herauszuholen. Wieso sollte man ausgerechnet heute in ein Abenteuer aufbrechen, wieso sollte man in den Urlaub fahren, eine neue Sprache lernen, ein Buch lesen, sich gerade jetzt verlieben, wenn es sowieso immer weitergeht? In der Ewigkeit kann man alles erreichen. Ergo kann alles warten.« Granny Jo sog ihre Wangen ein, um ein triumphierendes Grinsen zu unterdrücken. Sie war offensichtlich hochzufrieden mit sich. »Deswegen lasse ich nicht zu, dass Sie in diesem Haus den Tod schlechtmachen.«

      Der Pfarrer lächelte. »Ein schöner Vortrag war das. Ich wette, das haben Sie irgendwo gelesen.«

      Grannys Mund öffnete sich leicht. Ein empörtes Zischen, ein Blick, als hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst. 32 Jahre lang hatte sie als Bibliothekarin in der Islington Central Library gearbeitet. Grob geschätzt würde ich vermuten, dass wir uns zu siebzig Prozent über Zeug unterhielten, das sie irgendwo gelesen hatte.

      Mühsam zog sich der Pfarrer aus den Polstern des Lesesessels nach oben, trank noch einen Schluck Tee und stellte Tasse und Untertasse auf den Sofatisch. »Lassen Sie mich Ihnen eines sagen – und ich spreche aus Erfahrung: In der Praxis ist der Tod so viel komplizierter als in der Theorie.«

      Granny spitzte die Lippen. Sie war berüchtigt dafür, eine schlechte Verliererin zu sein. »Mag sein. Dann werden wir schon auch noch dahinterkommen. Schließlich bleibt uns nichts anderes übrig.«

      Der Pfarrer neigte das Haupt, gab sich geschlagen.

      »Dann lasse ich die Damen mal in Frieden.« Er stand auf, zückte eine Visitenkarte und legte sie neben seine noch fast volle Teetasse, den Blick auf mich gerichtet. »Ein paar Leute aus der Nachbarschaft haben darüber nachgedacht, ob Sie vielleicht drüben in der Christ Church einen kleinen Gedenkgottesdienst für Ellen abhalten wollen. Wenn das etwas für Sie wäre, melden Sie sich bei mir. Sie finden mich gleich um die Ecke.«

      Granny erhob sich vom Sofa, um den Pfarrer hinauszubegleiten. Noch war sie ihn aber nicht los. Als er in der Wohnzimmertür stehen blieb, ließ sie vor Enttäuschung den Kopf hängen.

      »Hannah«, sagte er und wandte sich an mich. »Deine Mum ist ab und zu auf einen kurzen Schwatz in der Kirche vorbeigekommen. Ich weiß, sie hatte mit ihren Dämonen zu ringen, aber an guten Tagen war sie ein echter Sonnenschein.«

      Ein Gefühl, das ich nur zu gut kannte, füllte mich vollständig aus: abgrundtiefe Scham. Ich wünschte von ganzem Herzen, ich könnte einfach in den Sofakissen versinken und verschwinden. Auf die Außenwelt hatte Mum während ihrer Hochs immer ganz reizend gewirkt, nur für Granny und mich waren sie ein grelles Warnsignal in der Dunkelheit ihrer verworrenen Realität. Höhenflüge und Höllenqualen, das waren bei Mum zwei Seiten einer Medaille.

      »Es tut mir sehr leid für dich, mein Kind. Gott sei mit dir.«

      Dieser letzte Satz brachte für Granny das Fass zum Überlaufen. Hätte er sich den doch nur gespart, wäre der Pfarrer noch mal glimpflich davongekommen.

      »Ich sage Ihnen jetzt, was Gott ist. Gott ist ein Meme – Sie wissen schon, diese albernen Bildchen im Internet – und zwar ein hoch ansteckendes. Gott ist ein kultureller Virus, der kaum auszurotten ist. Schönen Dank auch, aber Darwin ist mir persönlich viel lieber als Ihr Virus-Meme.« Und damit schob sie ihn buchstäblich aus der Tür.

      Das Flugzeug hält am Terminal. Neben mir schwafelt die Frau darüber, mit ihren Enkelkindern am Teich Enten füttern zu wollen. Ich ertrage es nicht mehr. Nicht dass sie das persönlich nehmen müsste, von den glorreichen Belanglosigkeiten anderer Leute bekomme ich nun mal Atemprobleme. Wahrscheinlich liegt das an der Trauer. An der Trauer um das, was ich verloren habe, aber mehr noch um das, was nie war. Mein größtes Ziel im Leben ist Normalität. Für mich wäre etwas hirnabstumpfend Belangloses reinster Luxus. Langeweile ist meine Perfektion.

      Wieder hole ich mein Handy raus, um mich vom Gequatsche der Frau abzuschirmen. Soll sie mich doch für ein unverschämtes Gör halten.

      Wenn man sich meinen Instagram-Feed so anschaut, könnte man Folgendes über mich denken:

      Ich habe glattes, glänzendes rotes Haar und makellose Haut.

      Ich koche gern.

      Ich mag die Natur.

      Ich bin total gern mit meinen lustigen Freundinnen unterwegs.

      Ich bin normal.

      Nichts davon wäre wahr.

      Foto: In einer grauen Londoner Straße steht ein Mädchen mit langem dunklem Haar und pinkfarbenem Blumenkleid, auf den Lippen ein strahlendes Lächeln, wie der einzige Sonnenstrahl an einem verregneten Tag.

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      Bildunterschrift: Sommer ist eine Einstellungssache.

      

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      Wie die Bildunterschrift hätte lauten sollen …

      Option 1: Was siehst du auf diesem Foto? #glück #glamour #liebedasleben #instamega

      Option 2: Lass dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen #fake

      Option 3: Für das Posten dieses Bildes auf Instagram habe ich 2.000 Pfund erhalten #werbung

      Option 4: Dieses Foto hat keinen Bezug zur Realität #instalüge

      FÜNF WOCHEN ZUVOR IN LONDON

      IMOGEN

      Imogen Collins betrachtet sich im Spiegel. Ihre Haut sieht heute wirklich gut aus, kein Vergleich zu noch vor einem Jahr. Da hat sie jeden Morgen