Das dunkle Flüstern der Schneeflocken. Sif Sigmarsdóttir. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sif Sigmarsdóttir
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014590
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überfliege die Zahlen in den Blasen, die ewigen Gezeiten der Wertungen und Urteile, denen wir in Wirklichkeit so gleichgültig sind wie die Küste dem Meer: Wie sehr wirst du heute geschätzt? Wie stark geliebt, wie viele Menschen suchen deine Nähe? Mag dich denn überhaupt irgendwer? Hast du neue Freunde? Wie sieht’s mit Followern aus?

      Zuerst tippe ich auf Gmail. Abgesehen von Newslettern und Benachrichtigungen verschiedener sozialer Netzwerke habe ich genau zwei neue E-Mails. Eine stammt von einer gewissen Stacey Callaghan, und obwohl mir der Name rein gar nichts sagt, habe ich so eine Ahnung, worum es gehen könnte. Der Betreff lautet: »Mein Beileid«. Ich schiebe die Mail zu den ganzen anderen in den Später-Lesen-Ordner. Die andere Mail ist von Granny Jo. Sie will einfach nicht kapieren, wie man Textnachrichten schreibt, und schickt mir stattdessen immer kurze Botschaften in der Betreffzeile: »Bring auf dem Heimweg Milch mit« oder »Muss bis spät arbeiten, bestell dir eine Pizza«. Diesmal steht dort: »Ruf an, wenn du bei deinem Dad bist.« Ich öffne die E-Mail, auch wenn das Textfeld sowieso jedes Mal leer ist. Ist es in diesem Fall aber nicht.

      Mein liebes Mädchen, ich hoffe, du bist sicher gelandet. Ich wollte dich nur darum bitten, nein, ich flehe dich an, nicht einfach zu vergessen, was ich dir heute Morgen gesagt habe. Du bist jetzt nur noch für dich selbst verantwortlich und für niemanden sonst. Gestatte dir, frei zu sein. Bitte, Hannah. Noch ein vergeudetes Leben halte ich nicht aus.

      In Liebe

      Granny

      Ich tue mein Bestes, nicht in Tränen auszubrechen.

      Vor nicht einmal fünf Stunden habe ich mich von Granny Jo verabschiedet. Irgendwie kommt es mir schon jetzt vor wie eine Ewigkeit.

      Dass sie mir vor meinem Abschied noch eine Ansage machen würde, hatte ich mir denken können. Aber mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Das war zu viel verlangt. Ich könne nicht einfach so neu anfangen, erklärte ich ihr, mein Leben sei keine Geschichte in einem Word-Dokument, das ich mal eben löschen und durch ein neues ersetzen könne. Wenn das jemand wissen sollte, dann sie.

      Ein Druck auf den Home-Button meines Handys und Grannys Nachricht verschwindet. Ich stecke den Kopf in den virtuellen Sand. Ich kann mich damit jetzt nicht beschäftigen.

      Zur Ablenkung gehe ich auf Facebook. Nichts Neues bei mir außer einer einzigen Freundschaftsanfrage von jemandem, der mit ziemlicher Sicherheit nicht real, sondern ein Bot ist. Doch ich brauche jetzt dringend eine Dosis digitale Liebe, also schnell Instagram öffnen.

      Schon besser. Mein Koffer-Foto hat bereits 38 Likes und einen Kommentar. Der stammt von Daisy: »Was für ein traumhaft schönes Gepäckstück!«

      Ich spüre ein leichtes Kribbeln. 38 ist nicht schlecht. Über dem Durchschnitt.

      Die Frau neben mir lehnt sich immer weiter herüber. Sie strahlt ein verzweifeltes Mitteilungsbedürfnis aus. Sie ist wie ein prall gefüllter Ballon kurz vor dem Platzen. Ich tue so, als hätte ich es nicht mitbekommen, doch es gibt Leute, die merken einfach gar nichts.

      »Ich besuche hier meine Enkel«, flötet sie und rückt mir dabei so dicht auf die Pelle, dass ihr Atem über meine Wange streicht. Er riecht nach Knoblauch und Minze.

      Meine Antwort sollte einerseits gerade so höflich ausfallen, dass die Frau mich nicht für eine psychopathische Menschenfeindin hält, andererseits aber so knapp, dass mein verschwindend geringes Interesse an einer Unterhaltung mit ihr deutlich wird. Ergebnis: »Wie schön.«

      Die Frau hat entweder null Gespür für Zwischentöne oder sie ignoriert meine Signale mit Absicht. Sie bietet mir eine Lutschtablette an. »Auch eine?«

      Ich schüttele den Kopf.

      Sie steckt die Hustenbonbons wieder in ihren abgewetzten Rucksack zu ihrer Brille und ihrer Reiselektüre, einem typischen düsteren Skandinavien-Thriller, neuerdings ein Muss im Gepäck eines jeden trendbewussten Menschen. Auf dem Cover prangt die unvermeidliche Schneelandschaft, gesprenkelt von geschmackvoll arrangierten Blutstropfen. Minimalistischer Mörder-Chic. Wieso verbringen so viele Leute ihre Freizeit mit ausgedachten Horrorgeschichten? Ist die echte Welt nicht schon schlimm genug?

      Die Frau deponiert ihren Rucksack auf dem Boden, richtet sich dann wieder in ihrem Sitz auf und lässt ihre gelblichen Zähne aufblitzen, wie um mich vorzuwarnen: Gleich geht es weiter mit dem Small Talk.

      »Sind Sie zum ersten Mal hier?«

      Ich stecke mein Handy ein. Es sollte mich von der Außenwelt abschotten. Es hat mich enttäuscht. »Nein.«

      »Machen Sie hier Urlaub?«

      Unwillkürlich stöhne ich leise auf. Wieso sollte man hier Urlaub machen? Wer kommt auf die Idee, freiwillig ans bitterkalte Ende der Welt zu reisen? Was ich sagen sollte: Nein, ich mache hier keinen Urlaub. Was ich sagen sollte: Ich bin zur Strafe hier. Ich bin Gefangene meines beschissenen Schicksals. Doch ich sage bloß: »Ja, klar.« Niemand will die Wahrheit hören, auch wenn das immer alle behaupten. Die Wahrheit ist selbst sogenannten Profis unangenehm – das ist mir schnell klar geworden.

      Einen Tag nach Mums Tod klopfte der Pfarrer der örtlichen Kirche bei uns an. Wie er darauf kam, weiß ich nicht, vermutlich hatte ihm jemand aus der Nachbarschaft von uns erzählt. Wir gingen nie in die Kirche. Weder Granny Jo noch ich hatten den Mann, der jetzt auf dem bröckelnden Bürgersteig vor unserer Tür stand, je gesehen.

      »Sind Sie vom Lieferdienst?«, fragte Granny und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Trotz seiner hohen Stirn wirkte er einigermaßen jung und noch dazu trug er Jeans und eine dicke Daunenjacke gegen die Septemberkälte, die gerade über uns hereingebrochen war. Man konnte ihn wirklich leicht für einen Fahrer von Ocado halten, der uns wie immer unseren Wocheneinkauf vorbeibringen sollte.

      »Ich bin Dominic Johnson«, sagte der Mann mit einem fein austarierten Gesichtsausdruck – ohne Lächeln, aber doch mit der klaren Botschaft, dass er in Frieden komme. »Ich bin von der Christ Church. Darf ich eintreten? Ich würde mich gerne ein bisschen mit Ihnen und Ihrer Enkeltochter unterhalten.«

      Granny seufzte demonstrativ. Alles, was mit Gott zu tun hatte, ging ihr gehörig auf die Nerven. Und das war noch untertrieben.

      Mit einer Mischung aus Neugier und dunkler Vorahnung folgte ich ihr und dem bedauernswerten Kerl ins Wohnzimmer. Granny bat ihn bestimmt nicht ohne Hintergedanken, in ihrem Lesesessel am Erkerfenster Platz zu nehmen. Im Regal gleich über seinem Kopf stand nämlich eines ihrer Lieblingsbücher, quasi ihre Bibel, was man aber nur sagen sollte, wenn man sie ärgern will. Vom Cover der prächtigen Hardcover-Ausgabe strahlte der kompromisslose Titel: Der Gotteswahn.

      Grannys Blick senkte sich auf ihre graue Jogginghose, die sie ausschließlich zu Hause trug. Sie fuhr sich durch ihr schulterlanges Haar, strich es glatt. Es war grau mit kastanienbraunen Strähnen, genau anders herum als noch vor Kurzem.

      Sie ärgerte sich nicht nur wegen der Sache mit Gott. Sie mochte außerdem keine Überraschungsbesuche. Eine Ausnahme machte sie nur bei Daisy, ansonsten wollte sie immer im Voraus wissen, wann wir Gesellschaft zu erwarten hatten. Wenn Besuch kam, gab sie sich stets Mühe, tauschte die Jogginghose gegen eine elegante Stoffhose mit Bluse, wenn nicht sogar gegen ein Kleid, und sorgte dafür, dass wir schmackhafte Kekse im Haus hatten. Früher hatte das aber auch an Mum gelegen. Granny wollte das Bild einer ganz normalen Familie vermitteln, von Mutter, Tochter und Großmutter, die glücklich vereint unter einem Dach wohnen. In ein normales Leben passte meine Mutter jedoch so gut wie eine gemütliche Teestunde auf die Startbahn eines Flughafens. Wenn spontan jemand an der Tür klingelte, dann konnte man nie wissen, in welchem Zustand sich Mum gerade befand.

      Granny setzte sich gegenüber vom Pfarrer auf das Sofa. »Hannah«, bellte sie mich an. »Mach dem Mann einen Tee.«

      »Nicht nötig«, sagt er. Seine Daunenjacke hatte er nicht ausgezogen. »Ich will nicht stören …«

      »Haben Sie doch schon.«

      Es war mir dermaßen unangenehm, dass ich froh war, in die Küche fliehen zu können. Als ich wieder zurückkehrte,