Und mit beschleunigten Schritten durchqueren sie das dunkle Feld. Dem Hund entgegen, der unsichtbar, in gleichmäßigen Zwischenräumen, bellt. Keuchend den Hügel hinan, auf welchem im Sternendämmer die Schafe liegen, geruhsam wiederkäuend.
Da kommt ihnen der Hund entgegengeeilt und rennt, sie nach sich lockend, wieder zurück, ihnen voraus. Droben finden sie Stephan auf der Erde liegend, mit totenblassem Antlitz, in einem Schlafe, der Starrkrampf ist. Und was hält er in der Hand?
»Stephan? – Stephan?« Sie rütteln und schütteln ihn.
Endlich öffnet er die fahlen Lider, hebt sich in die Knie, auf die Beine, und blickt ihnen mit einem irrseligen Lächeln abwechselnd in die bang staunenden Gesichter.
»Ihr wißt es schon? Ihr habt den Ruf auch gehört und seid aufgebrochen –?«
»Nichts wissen wir. Dich gesucht haben wir!«
»Ich aber habe euch gerufen. So sicher als Christus mich gerufen hat! Dieses ist sein Brief an die Mächtigen dieser Erde, daß wir es sind, die sein Grab der Gewalt der Heiden entreißen werden!«
Sie sehen erschauernd seine Augen zum Himmel emporgerichtet. Ist die dunkle Sehnsucht, die aus ihnen flammt, nicht auch ihre Sehnsucht? Schwang sie sich nicht schon lange dorthin, wohin jetzt seine erhobenen Arme weisen?
»Der Stern! Der Stern! – Allmächtiger, dein Zeichen!«
Und sie gewahren plötzlich an dem bläulich über ihnen dämmernden Firmament ein Gestirn, so hell erstrahlend wie eine kleine Sonne. Noch nie bisher haben sie es gesehen – warum muß es ihnen gerade heute erscheinen? Es spritzt und flackert von einem solchen Feuer, als wäre der Weltuntergang da und müßte der große Brand von ihm seinen Ausgang nehmen.
»Was bedeutet dieser Stern?« fragen sie sich mit stockender Stimme. – »Was ist mit dir geschehen, Stephan?« schreien sie ihm in das verzückte Antlitz. – »Was für ein Traum gab dir ein, daß wir es sind, die das heilige Grab befreien sollen?« beschwören sie ihn im schaudernden Vorgefühl eines Schicksals, das auch sie ergreifen wird.
»Brüder! Brüder!« stammelt er, sie mit seinen dünnen, harten Armen umschlingend, so daß sie zusammen mit ihm erzittern. »Stand nicht einst ein solcher Stern am Himmel, als der Erlöser geboren wurde? – Und was könnte dieser hier uns anderes zeigen wollen als den Weg nach der Stätte, wo Christus den Kreuzestod starb? – Lukas, Markus, kommt mit mir, daß wir alle Kinder um uns sammeln zur Fahrt nach dem heiligen Lande! Uns, die wir elend sind, wird gelingen, was den Hochmütigen nicht gelang . . . Laßt uns dem Sterne nachfolgen!«
Und sie schreiten den Hügel hinunter, durch die flimmernde Frühlingsnacht. Der Hund läuft ihnen winselnd nach; und wieder zur Herde zurück; und so mehrmals hin und her, bis er dahinten bleibt. Mag er bleiben! Mögen auch die andern Herden hinlaufen, wo sie wollen. Was gehen sie noch die Schafe der Bauern an, die ihnen kaum das Brot gönnen? Ein Wunder Gottes will, daß sie eine andere Herde um sich scharen!
». . . Ein Pilger, sagst du, trat zu dir? – Und du glaubst, daß es unser Herr selber gewesen ist?«
Von beiden Seiten tönen ihre ehrfürchtigen Fragen ihm entgegen.
»Das ist sein Zeichen!« flüstert Stephan. »Verbrieft und versiegelt . . . – Aber hört ihr nichts?«
Er bleibt stehen. Sie halten alle den Atem an.
»Was hörst du?«
»Mir ist, als sängen die Engel des Himmels, wie sie damals gesungen haben: Friede auf Erden! Friede auf Erden!«
Und wieder fassen sie einander bei der Brust. Und lauschen; und lauschen. Durch diese Welt hindurch, in eine andere hinein.
»Ja, jetzt hören wir es auch! – Der ganze Himmel singt, mit allen seinen Engelschören! – Stephan! Stephan!«
Aber schon ist er in seine eigene Verzückung zurückgekehrt und ihnen vorausgeschritten. Seine Augen hangen wie gebannt an dem wunderbaren Stern, der durch ganze Wolkentäler matten Lichtergewimmels sein jauchzendes Feuer versprüht. In dem allgemeinen Himmelsgesang tönt sein Glanz wie eine Posaune des jüngsten Gerichtes, die nicht nur eine alte Welt zum Grabe, sondern auch eine neue zur Geburt aufruft.
Die Knaben wissen nicht, daß es die Venus ist, die zu Zeiten alle andern Sterne überstrahlt . . .
»Das Siegel an meinem Brief,« jubelt Stephan vor sich hin, »und dieser Stern am Himmel –«
Und so wandern sie, von Seligkeit trunken, auf der weiten nächtlichen Erde; wie Blinde, die sich ihr Schicksal ertasten. Mit jeder Stunde von tieferer Zuversicht erfüllt.
Wie spürten sie noch die Müdigkeit des Leibes? Sie ziehen der geheimnisvollen nächtlichen Sonne nach, einsam durch die feucht atmenden Frühlingsgefilde. Dem großen Tage des Glaubens entgegen.
Sie kennen jetzt ihren Weg . . .
5. Im Hoffnungsrausch
»Mutter! Mutter! – Gott, mir ist der Atem ganz versetzt! – Erschrick nicht, Mutter! Du wirst wieder gesund werden und nicht mehr im Bett liegen müssen. Wenn wir erst das Grab des Heilands den Ungläubigen entrissen haben, so gibt es keine Krankheit und keinen Jammer mehr auf Erden . . . Was schaust du mich nur so erschrocken an? – So höre denn: Heute morgen sind drei Hirtenknaben durch das Dorf gezogen und haben uns alle – auch uns Mädchen – aufgerufen zu einem Zuge nach dem heiligen Land! – Einem von ihnen, den sie Stephan nennen, ist gestern Abend, als er auf der Weide die Schafe hütete, Christus erschienen und hat ihm einen wunderkräftigen Brief gegeben, daß alle Mächtigen der Erde uns durch ihr Gebiet durchlassen müssen; und daß selbst das Meer vor uns zurückweichen wird, damit wir trockenen Fußes nach Jerusalem pilgern können . . . Du staunst und machst ein ungläubiges Gesicht? Ich habe die Knaben nicht mehr selbst gesehen; aber die Salome hat sie gesehen und hat mir alles erzählt. Wie ihnen plötzlich in der Nacht der Stern geleuchtet habe, der schon die heiligen drei Könige zur Krippe des Jesuskindes führte; wie sie die Stimmen der Engel gehört hätten, die ihnen mit silbernen Flügeln bis in den Morgen hinein folgten; und wie man ihnen das selige Erlebnis noch an den Gesichtern ablesen konnte . . . – Verzeih, Mutter: ich will erst im Dorf herum und es den andern Mädchen sagen! Dann komme ich zurück und mache dir schnell das Bett – und dann geht's nach Jerusalem! Und wenn ich wieder heimkehre, so stehst du unter der Haustüre und bist gesund und lachst; und ich bin's, die dich gesund gemacht hat! O, wie wird das dann herrlich sein! . . . Aber du freust dich ja gar nicht! Warum schaust du mich nur immer so angstvoll an? Du glaubst nicht, daß es dieses Wunder geben kann, wie es schon so viele andere gegeben hat? Ist denn nicht dieses ganze Jahr ein Wunder? Monatelang hat's gefroren, daß jetzt noch ein Eisklumpen im Teiche schwimmt: aber seit vierzehn Tagen ist ein Frühling gekommen, wie noch keiner dagewesen ist. Alle Vögel jubilieren; das Vieh hüpft und weidet wieder. Und die Sonne scheint einem so warm in den Nacken, daß man ganz närrisch wird davon . . . Man sieht's, denkst du? – Wie, und nun weinst du gar noch? Nein, nein, nein, nicht weinen! – Wie könnte ich da auf die Wallfahrt gehen und dich gesund machen? Oder glaubst du wirklich nicht, daß ich es kann? Hast du denn den Stern nicht gesehen? Du liegst ja so oft wach des Nachts. Aber vielleicht stand er auf der andern Seite –«
Dem schwärmenden Menschenkind versagt jedes weitere Wort. Wie ein Sonnenstrahl durch die Wolken dringt, so tritt plötzlich in dem von Angst und Zweifeln verdunkelten Gesicht der kranken Frau ein verklärender Abglanz innerster Zuversicht hervor. Und jetzt schlägt sie die Decken zurück, stellt die schwachen Schenkel auf den Boden und trippelt, wo sie doch