Bald hebt er mutig die Stirn, voll Zuversicht in seine göttliche Sendung; bald schüttelt er zweifelnd sein Haupt und läßt es sinken unter der Ungewißheit alles Irdischen. Er hat kein Gefühl dafür, daß rings die Erde erwachen will und aus tiefsten Gründen in Bäume, Sträucher und Gräser ihr verborgenes Leben einströmen läßt: er ist selber ein Teil dieser Welt und ihrer Furcht und Hoffnung, in welcher das Leben Gottes mit neuen Atemzügen sich zu regen beginnt. Die wehende Luft trocknet ihm Haut und Gaumen aus – er achtet es nicht. Die Füße in den offenen Sandalen brennen ihm von Staub und früher Sonnenhitze – er fühlt es nicht. Die Glieder, die ihn vom tagelangen Marsch aufgequollen schmerzen, wären auch für die kleinste Rast dankbar, die ihnen sein unermüdlich ausspähender Wille gönnt – er überläßt es dem Zufall, wo sie zur Ruhe kommen mögen.
Da steht eine alte Schenke am Wege. Bauern hocken auf Holzbänken um einen langen Tisch herum, über dem eine Linde ihre kahlen, knospenden Äste verbreitet: die weiße Märzensonne, welcher noch kein Laub den Durchpaß wehrt, umglänzt vom blauen Himmel herab die Hornbecher, aus denen sie ihren Apfelwein trinken. Bruder Hieronymus grüßt, läßt sich am freien Ende der einen Bank zum Sitzen nieder und dankt freundlich dem kleinen Mädchen, das ihm, weil er ein frommer Wanderer ist, ungeheißen ein Becken Milch und ein Stück Brot vorsetzt.
Die Bauern drehen alle die Köpfe nach ihm hin und starren ihn stumm an. Ist das am Ende auch einer von den Halbnarren, die mit ihren Kreuzpredigten von einem Ort zum andern ziehen und den Leuten die Köpfe verdrehen? Kann es einen noch wundernehmen, wenn die guten Knechte mit jedem Tage rarer werden? Und sie betrachten ihn finster.
»Wißt ihr mir keinen ordentlichen Schafhirten?« fragt jetzt einer die andern. »Habe da so einen blöden Waisenknaben, auf den kein Verlaß ist: er hockt den ganzen Tag auf einem Hügel, stiert in die Wolken und läßt die Tiere sich verlaufen. Er sagt, daß Jesus wiederkehren werde, sobald wir sein Grab befreit haben . . . Aber Dummheiten, das gibt's nicht mehr!«
Bruder Hieronymus sieht, wie die Bauern sich gegenseitig mit den Ellenbogen anstoßen und auf den Stockzähnen lachen. Gilt das etwa ihm? Wenn die wüßten! denkt er und sucht in ihren groben, dunklen Gesichtern zu lesen, während er unter dem Mantel mit der Hand nach seinem Briefe tastet. Doch schon schickt sich einer an, im Namen aller zu reden.
»Hab' auch einmal einen gehabt, der jammerte jeden Tag, das Ende der Welt sei nahe. Da hab' ich den Hungerleider vier Wochen lang aufgefuttert; und sobald ihm die Welt wieder gefiel, dachte er nicht mehr an ihr Ende . . . Mußt's auch so machen! Mußt's dich nur nicht gereuen lassen! Und was gilt's, er predigt nicht mehr von Jesus, sondern weidet deine Schafe?«
Der Bauer, der zuerst sprach, trinkt aus und steht auf. Die andern aber verprusten hinter der vorgehaltenen Faust ihr Lachen und glotzen ihm aus schwimmenden Augen ihre Schadenfreude ins Gesicht. So ist's recht! Dem ist's wieder einmal unter die Nase gerieben worden! Und sie blinzeln aus den vielen boshaften Fältchen ihrer Lederhaut hervor, seiner Antwort entgegen; und zugleich seitwärts schadenfroh nach dem verkleideten Bruder hin, bei welchem zutraulich das Mägdlein steht.
»Wenn mir dann noch einer sagt, wo ich's hernehme, wenn's ans Zinsen geht, so soll's mich freuen. Unter eurem Dach ist auch noch keiner dem Fressen zulieb geblieben! Dafür sieht man euch sogar am Sonntag schinden und rackern, wo unsereiner immerhin meint, es sei der Tag des Herrn . . . Gute Nacht miteinander!«
Der Bauer stapft verdrossen davon, während die Zurückbleibenden mit immer neuen Beispielen seine Knauserigkeit verhöhnen. Sie strecken nach vorn die roten Nasen zusammen, nach hinten die prallen Hosen über die Bank hinaus; und lästern, lästern, was das Zeug hält. Sie stinken selber von dem Geiz, den sie einem andern vorwerfen.
Bruder Hieronymus hat genug gehört. Er erhebt sich und greift nach seinem Stecken; neben ihm wartet das Mägdlein. »Vergelt' dir's Gott in Jerusalem!« flüstert er geheimnisvoll und legt dem erstaunten Kinde die Hand aufs Haupt.
Der Wind ist auf einmal abgeflaut; die rings aufgrünende Erde schweigt. Der Tag besinnt sich langsam auf den Abend, welcher im wasserklaren Westen schon silberne Wolken bereitgestellt hat, um die Sonne zu empfangen.
Am Horizont aber verschwindet die winzige Gestalt des Bauern hinter einer Erderhöhung und zeigt dem Boten Gottes den Weg.
3. Stephans Berufung
Das Licht flutet in Wellen. Durchwärmt fächelt eine klare Luft über Berg und Tal, während aus versteckten Muldenwinkeln die Schneereste des Winters ihr einen kühlen Unterstrom beimischen. Trotzdem gerinnt zuletzt die fremde, süße Glut zu einem weißlichen Dunst, der wie in Vorahnung des Sommers das Schwarzgrün der Wälder blaugrau, das Blau der Ferne silberig macht.
Es gärt in jeder Ackerscholle, die den Samen birgt. Es treibt in jedem Baum, welcher zu dem Hügel hinaufschaut, wo ein einsamer Schafhirte sitzt, und schwellt ihm die knospenden Äste, als sollte er eines Tages die Welt mit ihnen ausfüllen. Es wächst durchsichtig, zart und zitternd in all den Grasspitzen empor, welche dichtgereiht die zwei in Leder gewickelten Füße umdrängen, auf denen die glühende Frage eines vornübergebeugten Knabenantlitzes ruht . . .
»Stephan?«
Er erschrickt. Er schnellt den ausgemergelten Kopf mit dem strähnigen Braunhaar in die Höhe. Er schaut mit bebenden Lippen umher, woher ihm dieser Ruf gekommen sein mag.
Wie vom blauen Himmel herab, von der sonnig flimmernden Luft hergetragen, ist die Stimme an sein Ohr gedrungen; und noch hallt sie ihm in der Seele nach. Erst allmählich kehren seine suchenden, zweifelnden Blicke aus der Ferne, die ihn weit und erwartungsvoll umleuchtet, in die nächste Umgebung zurück, wo unten am Hügel die Schafe, mit goldig überglänzten Vließen wiederkäuend, ihre Nachmittagsruhe halten. Und zuletzt bleiben seine Gedanken wieder an dem groben Schuhwerk hangen.
Er hält die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Aus einem Hunger heraus, den er so gewohnt ist, daß er ihn kaum mehr spürt, zerbeißt er sich die Finger. Wieder lauscht er in die Tiefen seines Blutes hinab, wie es mit seliger Leichtigkeit kreist und singt – und das doch eins ist mit der bittern Welt, in der er sich verhaftet und verloren weiß! Ein unfaßbares Etwas strömt aus ihr in ihn herein und aus ihm in sie hinaus und sucht in Glück und Qual nach dem Zauberwort, das alles Weh dieser Erde bannt. Ein heißer Wille quillt in immer neuen Stößen in ihm auf; jeder Muskel an ihm spannt sich wie zum Sprunge nach einem Ziel, das unendlich fern ist und doch dem Mutigen durch ein Wunder erreichbar sein muß.
Und gleichzeitig steht hinter ihm, in der Erinnerung, die Vergangenheit. Er sieht erst die Mutter, dann den Vater auf dem Totenbett liegen. O, ihre gefalteten, von der harten Arbeit rissigen Hände waren immer so weich, wenn es galt, für ihn zu sorgen! Warum mußten sie als arme Pächtersleute ein so elendes Leben führen, wie er es jetzt als verschupftes Knechtlein führt? Was für ein Fluch liegt auf diesem Erdendasein, daß kein Glück und keine Güte mehr in ihm gedeihen können?
Die Menschen sind in Sünde gefallen: das ist es! Etwas über alle Maßen Herrliches ist von ihnen gewichen und hat ihnen in ihrer Finsternis nur die Sehnsucht nach ihm zurückgelassen. Keiner kennt mehr seinen Nächsten; alle quälen sie einander sinnlos wie böse Tiere und machen sich gegenseitig, während sie nach dem verlorenen Paradiese schreien, das Leben zur Kreuzesmarter. Wer wird sie zum Erlöser zurückführen, auf daß sie selber Erlösung finden?
»Stephan! – Stephan!«
Er greift nach seinem